Markierungen am Tatort in der Nähe der Edmondson Westside High School in Baltimore
AP/Julio Cortez
Häufigste Todesursache

US-Schusswaffenboom auf Kosten der Kinder

1.676 Kinder und Jugendliche sind laut Gun Violence Archive im Jahr 2022 in den USA erschossen worden. Waffengewalt hat damit – Suizide meingerechnet – Verkehrsunfälle und Krankheiten als häufigste Todesursachen von unter 19-Jährigen in den USA abgelöst. Insgesamt stieg die Zahl der im Umlauf befindlichen Waffen und auch die der Todesopfer in den vergangenen Jahren stark. Und eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.

Es ist drei Uhr früh am 7. Jänner 2022 in der US-Hauptstadt Washington DC. Der 13-jährige Karon wird an der Ecke der Quincy Street und Michigan Avenue von einem Unbekannten erschossen. Die genauen Hintergründe sind noch nicht geklärt.

Karon ist einer von vielen: Täglich sterben in den USA mehrere Minderjährige durch Waffengewalt. Seit Anfang des Jahres wurden laut der Nichtregierungsorganisation Gun Violence Archive bereits 245 Kinder und Jugendliche erschossen, mehr als doppelt so viele wurden verletzt.

Waffengewalt als trauriger Alltag

Die ORF-Korrespondenten Inka Pieh und Christophe Kohl berichten aus Washington über die in den USA herrschende Waffengewalt und die Ursachen dafür.

Waffenkäufe in der Pandemie stark gestiegen

Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist es schwierig festzumachen, wieso die Zahl der Waffentoten so dramatisch gestiegen ist. Eine große Rolle soll aber die Verfügbarkeit von Waffen spielen. Mit Beginn der Pandemie ist die Zahl der Waffenverkäufe in den USA sprunghaft gestiegen, wie der Gesundheitswissenschaftler Matt Miller in einer Studie der Northeastern University ausgewertet hat.

Zwischen Jänner 2020 und April 2021 hätten sich 5,4 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner zum ersten Mal eine Schusswaffe angeschafft, darunter überproportional viele Frauen und Afroamerikaner. „Die gesundheitlichen Folgen des jüngsten Anstiegs an Schusswaffen in Privatbesitz werden nicht nur die neuen Waffenbesitzer tragen müssen, sondern auch die Millionen Menschen, die mit ihnen leben, darunter rund fünf Millionen Kinder, die nun Schusswaffen in ihrem Haushalt ausgesetzt sind“, schreibt Miller in seiner Studie.

Waffenverwahrung nicht einheitlich geregelt

Einheitliche Regeln, wie diese Waffen aufbewahrt werden müssen, gibt es nicht. Das ist nämlich Sache der Bundesstaaten, ein landesweites Bundesgesetz existiert nicht. In 34 der 50 US-Bundesstaaten ist gesetzlich vorgeschrieben, dass Waffen sicher vor Kindern aufbewahrt werden müssen. Lediglich 14 Bundesstaaten sehen vor, dass Waffen in Safes weggesperrt werden müssen.

Viele Kinder und Jugendliche haben daher verhältnismäßig einfach Zugang zu Waffen, das führt immer wieder zu tragischen Unfällen. 2022 hat es im ganzen Land 1.625 unintentional shootings, also unabsichtliche Schießereien, gegeben. In den USA sterben viermal mehr Menschen durch unabsichtlich abgefeuerte Schüsse als in anderen Industrienationen.

Demonstration gegen Waffengewalt vor dem US-Kapitol im Juli 2022
IMAGO/NurPhoto/Allison Bailey
Demonstration für verschärfte Waffengesetze in Washington

Weniger Polizeipräsenz in Problemvierteln

Die Pandemie befeuerte den Trend zur Waffe, gleichzeitig hat die Präsenz der Polizei vor allem in den ersten Monaten der Pandemie deutlich abgenommen – eine gefährliche Kombination, die zu mehr Schießereien vor allem in den ohnehin schon unter hoher Kriminalität leidenden Vierteln der Großstädte geführt hat. Die Viertel mit den höchsten Kriminalitätsraten sind für junge Amerikaner nunmehr gefährlicher als so manch ein Kriegsgebiet.

In der berüchtigten South Side Chicagos und auch in manchen Teilen Philadelphias ist die Gefahr, tödlich durch Schusswaffen verletzt zu werden, um ein Mehrfaches größer als unter Soldaten im Krieg, wie ein im Dezember veröffentlichter epidemiologischer Vergleich zeigt.

Zahl der Toten binnen weniger Jahre verdoppelt

Schon seit einigen Jahren steigt die Zahl der Toten durch Schusswaffen. 2022 wurden landesweit mehr als 20.000 Menschen erschossen, Suizide mit eingerechnet waren es 44.299. 2014 lag die Zahl mit rund 12.400 Schusswaffenopfern noch deutlich niedriger. Im Jahr 2016 gab es in den USA mehr als zehn Todesfälle pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Österreich waren es im selben Zeitraum 2,1.

Doch auch innerhalb der USA gibt es laut Gesundheitsbehörde CDC starke regionale Unterschiede. Vor allem in den konservativen südlichen Bundesstaaten wie Mississippi oder ländlichen Gebieten im mittleren Westen sterben besonders viele Menschen durch Schusswaffen.

Halbautomatikwaffen bleiben verfügbar

Ein weiterer Grund für den Anstieg der Todesopfer durch Waffengewalt ist, dass Massenschießereien immer häufiger werden. Laut Gun Violence Archive hat sich die Zahl dieser Amokläufe mit mehr als vier Toten und/oder Verletzten seit 2014 mehr als verdoppelt. Vergangenes Jahr gab es 647 solche Schießereien, das heißt beinahe zwei pro Tag. Oft verwenden die Täter dabei halbautomatische Maschinengewehre, mit denen sie binnen kürzester Zeit unzählige Menschen töten können.

Gedenken an Alexandria Verner, einem der getöteten Schüler der Clawson High School im Februar 2023
AP/Paul Sancya
Trauerfeier für die Opfer nach einem Amoklauf an der Universität von Michigan

Immer nach solchen Massakern wird der Ruf nach einem Verbot dieser Gewehre laut. Doch die Republikaner und einzelne Demokraten blockieren eine derartige Gesetzesverschärfung kategorisch. In vielen Bundesstaaten sind solche Gewehre sogar schneller zu erhalten als eine Pistole.

Biden hat keine Mehrheit für verschärfte Gesetze

US-Präsident Joe Biden sprach schon im Wahlkampf von einer regelrechten „Waffenepidemie“, die das Land plage. Seit Beginn seiner Amtszeit verspricht er eine signifikante Verschärfung des Waffenrechts. Doch angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress ist sein Handlungsspielraum eingeschränkt. Der Präsident konnte lediglich mittels Dekreten kleinere Verschärfungen anordnen.

Nachhaltige Maßnahmen sind das allerdings nicht, da sie jederzeit von Bidens Nachfolgerin oder Nachfolger wieder aufgehoben werden können. Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht. Proteste und Trauerfeiern wie für den 13-jährigen Karon werden in den USA also weiterhin auf der Tagesordnung stehen.