Griechische Einsatzkräfte am Weg ins türkische Erdbebengebiet
AP/Thanassis Stavrakis
Türkei und Griechenland

Erdbebenhilfe entschärft Konflikt

Nach dem verheerenden Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet stehen die Zeichen zwischen der Türkei und Griechenland weiter auf Annäherung. Die beiden Nachbarn streiten seit Jahren um Hoheitsrechte und Grenzverläufe, es gab immer wieder militärische Drohgebärden. Trotzdem war Griechenland nach der Katastrophe sofort mit Hilfe zur Stelle. Nun gibt es Hoffnungen auf einen möglichen Neustart in den Beziehungen der beiden NATO-Länder. Zumindest wolle man nicht auf die nächste Katastrophe warten, heißt es.

Aktuell sprach sich am Wochenende der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu für vertiefende Gespräche zur Beilegung unterschiedlicher Konflikte aus. „Wir müssen unsere Sondierungsgespräche fortsetzen und vertrauensbildende Maßnahmen zwischen den Militärs auf NATO-Ebene und auf bilateraler Ebene setzen“, wurde er von griechischen Medien zitiert.

„Nicht auf eine weitere Katastrophe warten“

„Beide Seiten müssen zur Deeskalation der Spannungen beitragen“, sagte Cavusoglu. Der türkische Außenminister verwies auch auf den Besuch seines griechischen Amtskollegen Nikos Dendias in den von dem Erdbeben betroffenen Gebieten der Türkei und bekräftigte, dass Griechenland und die Türkei „nicht auf eine weitere Katastrophe warten sollten, um zusammenzuarbeiten“. Weiters sagte Cavusoglu: „Ja, wir hatten in der Vergangenheit Meinungsverschiedenheiten, und manchmal gab es Eskalationen. Wir haben uns aber auch gegenseitig als Nachbarn unterstützt.“

Griechische Einsatzkräfte in Antakya
Reuters/Kemal Aslan
Griechenland schickte sofort nach dem Beben mehrere Hilfsmannschaften ins Nachbarland

Griechischer Außenminister besucht Bebengebiet

Griechenland hatte nach dem Beben mit der Stärke 7,8 in der südlichen Türkei und im Norden Syriens am 6. Februar sofort Hilfe im Nachbarland geleistet. Der griechische Außenminister Dendias besuchte selbst das Katastrophengebiet und traf sich dort mit Cavusoglu.

Türkischer Außenminister Mevlut Cavusoglu empfängt griechischen Amtskollegen Nikos Dendias am Flughafen
AP/Greek Foreign Ministry
Dendias (links im Bild) war der erste europäische Außenminister, der das Katastrophengebiet besuchte

Die beiden Politiker umarmten sich, wie das griechische TV zeigte. Politische Beobachter und Kommentatoren der griechischen Presse äußern nun seit Tagen die Hoffnung, dass es nun einen Neustart in den Beziehungen zwischen den NATO-Mitgliedern geben könnte. Bereits nach dem Erdbeben 1999 in der Türkei und in Griechenland gab es eine Entspannung in den Beziehungen beider Länder.

„Erdbebendiplomatie“ nach 1999

Damals waren einander die beiden Länder mit Rettungsmannschaften und humanitärer Hilfe gegenseitig beigestanden. Diese Hilfe entwickelte sich stufenweise zu einer Annäherung, die unter dem Namen „Erdbebendiplomatie“ bekanntwurde. Sie leitete damals eine Phase der Entspannung ein, die mehr als zehn Jahre lang anhielt.

Dann eskalierten die Spannungen wieder schrittweise. Athen und Ankara streiten sich seit Jahrzehnten um Hoheitsrechte in der Ägäis und im östlichen Mittelmeer, außerdem um Erdgasvorkommen. In den vergangenen Monaten hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wiederholt sogar mit einer Invasion griechischer Inseln gedroht. „Wir könnten plötzlich eines Nachts kommen“, wurde er zitiert.

Versöhnliche Worte statt Kriegsrhetorik

Anstatt wie noch vor einem Monat von Eskalation ist nun auch von griechischer Seite von weiterer Annäherung die Rede. Die aktuell positive politische Dynamik könnte Anlass zu einer Entspannung zwischen den beiden Nachbarstaaten werden, sagte kürzlich der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis in einem Interview mit dem öffentlich-rechtlichen Sender ERT. Das Erdbeben mit seinen „unermesslichen Zerstörungen“ könne eine Gelegenheit sein, die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei neu zu definieren.

Mädchen steht vor eingestürzten Häusern in Kahramanmaras
Reuters/Clodagh Kilcoyne
Athen: „Menschliche Pflicht“ zu helfen

Für sein Land sei es eine menschliche Pflicht gewesen, dem leidenden türkischen Volk mit Hilfskräften und Hilfslieferungen beizustehen. Mitsotakis erklärte weiter: „Ich habe trotz der aggressiven Rhetorik und der Spannungen seitens der Türkei immer gesagt, dass uns nichts vom türkischen Volk trennt.“

Fast 47.000 Tote

In dem Katastrophengebiet gibt es immer noch Nachbeben. Erst Samstagabend erschütterte ein solches laut türkischen Angaben mit der Stärke 5,3 die Provinz Kahramanmaras. Die Zahl der Todesopfer stieg inzwischen in der Türkei auf fast 41.000, immer noch werden Leichen aus den Trümmern zerstörter Gebäude geborgen. In Syrien wurden bisher 5.900 Tote gezählt. Insgesamt kamen damit in beiden Ländern fast 47.000 Menschen ums Leben.

Die Türkei stellte am Sonntag die Rettungseinsätze in nahezu allen betroffenen Provinzen ein. Lediglich in insgesamt rund 40 Gebäuden in den Provinzen Kahramanmaras und Hatay laufe die Suche nach möglichen Überlebenden weiter, sagte der Chef des türkischen Katastrophenschutzes, Yunus Sezer.

In Syrien seien 8,8 Mio. Menschen von den Folgen des Bebens betroffen, schrieb die stellvertretende UNO-Syrien-Beauftragte Najat Rochdi am Sonntag auf Twitter. „Die Mehrheit von ihnen benötigt voraussichtlich irgendeine Form von humanitärer Unterstützung.“