Frau mit Ukraine-Fahne über den Schultern bei Demo in Istanbul
AP/Francisco Seco
Skepsis gegen Westen

Krieg lässt Welt auseinanderdriften

So geeint der Westen ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Krieges auch dasteht, zu politischen Playern wie China, Indien und der Türkei tritt eine tiefe Kluft zutage: Die Meinungen zu Krieg, Russland und der internationalen Ordnung driften in den jeweiligen Bevölkerungen auseinander. Das zeigt ein Bericht der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR). Dessen Autoren plädieren deshalb für ein „neues Narrativ“.

„Das Paradoxe am Krieg in der Ukraine ist, dass der Westen zugleich geeinter und weniger einflussreich in der Welt ist als je zuvor“, kommentierte Mark Leonard, Koautor und ECFR-Direktor, die Ergebnisse des Berichts mit dem Titel „Der Westen vereint, von der restlichen Welt getrennt: Die internationale Meinung nach einem Jahr Krieg in der Ukraine“.

Gemeinsam mit Ivan Krastev vom Centre for Liberal Strategies und Timothy Garton Ash, der an der University of Oxford und der Stanford University lehrt, analysierte er Daten aus China, Indien, der Türkei, Russland, den USA sowie aus zehn europäischen Staaten. Konkret sind das Dänemark, Estland, Frankreich, Deutschland, Italien, Polen, Portugal, Rumänien, Spanien und das Nicht-EU-Land Großbritannien. Erhoben wurden die Daten von den Instituten Datapraxis, YouGov, Gallup und Norstat.

Hinweis

In Indien, China und Russland wurden nur Einwohnerinnen und Einwohner urbaner Gebiete befragt, die Daten sind – anders als jene der restlichen Staaten – nicht für die nationale Bevölkerung repräsentativ. Bei Russland und China gilt zu beachten, dass sich Befragte womöglich in ihrer freien Meinungsäußerung beeinträchtigt fühlen.

China, Russland: Zweifel an westlichen Motiven

Untersucht wurden Haltungen zu Fragen wie: Wie geeint steht der Westen da? Wieso stehen die USA und Europa hinter der Ukraine? Ist Russland Feind oder Verbündeter? Wo wird eine echte Demokratie am ehesten gelebt? Und wie wird sich die Weltordnung in den nächsten zehn Jahren entwickeln?

Die Befragungen von 19.765 Personen zeigten laut Autoren, dass der Westen zwar als geeint wahrgenommen wird. Das Misstrauen ist aber groß: Die Unterstützung der Ukraine sehen Bevölkerungen Chinas und Russlands vielfach als Versuch, die westliche Dominanz zu verteidigen. In den untersuchten EU-Staaten wird hingegen die Verteidigung der eigenen Sicherheit als häufigstes Motiv gewählt, in den USA ist es die Verteidigung der ukrainischen Demokratie.

Im Westen dominiert dazu passend auch die Ansicht, dass die Ukraine ihr gesamtes Territorium zurückgewinnen muss, selbst wenn das den Krieg verlängert: 38 Prozent in den ausgewählten EU-Staaten stimmen mit der Antwort überein, dagegen sind es aber auch 30 Prozent, die ein sofortiges Kriegsende einfordern und dafür Gebietsverluste in Kauf nehmen würden. Ein beträchtlicher Teil der Befragten ist in der Frage unentschlossen, was zeigt, wie volatil das Stimmungsbild derzeit ist.

EU-Staaten: Gros für Einfuhrverbot russischer Energie

Mehr Entschlossenheit ist in puncto Russland-Sanktionen zu vernehmen: Aus den Daten von Anfang 2023 geht hervor, dass sich 55 Prozent der Bevölkerung in den neun untersuchten EU-Staaten dafür aussprechen, die Einfuhr russischer Energien zu vermeiden – selbst wenn es dadurch zu temporären Versorgungsproblemen kommt. Fast jeder Vierte vertritt andererseits die Meinung, dass eine ungestörte Energieversorgung sichergestellt werden soll.

Abrechnung mit dem Westen

Ein rasches Kriegsende, egal mit welchen Konsequenzen, wünschen sich viele Befragte in China, Indien, Russland und der Türkei: In Indien befürwortet mehr als die Hälfte der Menschen eine umgehende Beendigung der Gefechte, in der Türkei sind es knapp die Hälfte. 44 Prozent sind es in Russland, 42 in China.

Bemerkenswert ist auch das negative Image, das dem Westen in jenen Staaten inzwischen anhaftet: Der westlichen Demokratie wird ein schlechtes Zeugnis ausgestellt. Eine „echte Demokratie“ werde nach Ansicht der Befragten in China und Indien am ehesten im eigenen Heimatland gelebt.

Russland: Freund oder Feind?

Deutliche Bruchlinien zwischen dem Westen und den anderen globalen Mächten verlaufen ferner hinsichtlich der Frage zur Beziehung Russlands zum eigenen Land. In allen befragten westlichen Staaten wird Russland mit überwältigender Mehrheit als „Gegner“ oder „Konkurrent“ wahrgenommen.

Als „Verbündeter“ oder „Partner“ wird Russland hingegen von fast 79 Prozent der Befragten in China und Indien sowie 69 Prozent der Befragten in der Türkei angesehen. In etwa drei Viertel der Befragten jener drei Länder gaben auch an, dass Russland nach mittlerweile einem Jahr Krieg stärker bzw. genauso stark ist wie zu dessen Ausbruch. In Großbritannien, den USA und den neun EU-Staaten sieht man Russland hingegen geschwächt.

Fragmentierung der Macht?

Als eines der „auffallendsten“ Erkenntnisse sehen die Autoren die Einschätzungen zur künftigen Weltordnung. Viele – sowohl im Westen als auch in China und Co. – erwarten, dass die von den USA geführte liberale Ordnung innerhalb des nächsten Jahrzehnts ihre weltweite Vorherrschaft verlieren wird. In den USA (neun Prozent), Russland (sieben Prozent) und China (sechs Prozent) glauben nur noch wenige Befragte an eine Vorherrschaft der USA.

In Europa und den USA rechnen viele mit einer bipolaren Welt mit zwei Blöcken, die je von den USA bzw. China angeführt werden. Dagegen erwartet in etwa jeder Dritte in Russland und China, dass die Macht gleichmäßiger auf mehrere Länder verteilt sein wird.

Die Studie bescheinige, dass die meisten Europäer und Amerikaner in einer Welt leben, die „der Zeit vor dem Kalten Krieg entstammt und durch die Konfrontation von Demokratie und Autoritarismus geprägt ist“, kommentierte Krastev den Bericht auch. „Viele Menschen außerhalb des Westens leben aber in einer postkolonialen Welt, die auf dem Konzept nationaler Souveränität fußt“ so Krastev. Im ZIB2-Interview sagte der renommierte Osteuropa-Experte mit Blick auf den Ukraine-Krieg, dass vor den Präsidentschaftswahlen in der Ukraine und Russland „mehr Eskalation als Deeskalation“ zu sehen sein werde.

Politologe Krastev zum Ukraine-Krieg

US-Präsident Joe Biden hat überraschend die Ukraine besucht. In der ZIB2 ist dazu der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev zu Gast.

Autoren plädieren für internationale Zusammenarbeit

Der transatlantische Westen habe „völlig versagt“, Mächte wie China, Indien und die Türkei zu überzeugen, meinte Ash. „Die Lektion für Europa und den Westen ist klar: Wir brauchen dringend ein neues Narrativ, das auch Länder wie Indien, die größte Demokratie der Welt, anspricht“, sagte er auch.

Tatsächlich gibt es eindeutige Belege für das Erstarken von Ländern wie der Türkei und Indien seit Ausbruch des Krieges: Festmachen lässt sich das an der Vermittlerrolle, die die Türkei etwa im Getreideabkommen am Schwarzen Meer einnahm. Ebenso festmachen lässt es sich an Indien, das auf der einen Seite Wirtschaftsbeziehungen mit Russland verstärkt, auf der anderen in einem Sicherheitsdialog mit den USA, Australien und Japan sitzt.

Der Westen täte den Autoren zufolge gut daran, Indien, die Türkei, Brasilien und andere aufstrebende Mächte als „neue souveräne Akteure der Weltgeschichte“ zu behandeln. Zwar hätten diese keine einheitliche Ideologie und würden in vielen Fragen konträre Positionen vertreten – ihre Bevölkerungen seien für eine Zusammenarbeit über ideologische und politische Grenzen hinweg aber bereit.