Eingestürzte Häuser in Syrien
IMAGO/NurPhoto/Rami Alsayed
Erdbebenkatastrophe

Syriens Leid, Assads Kalkül

Knapp drei Wochen nach dem Erdbeben ist die humanitäre Lage besonders in den von Rebellen kontrollierten Gebieten Nordsyriens weiter prekär. Hilfe gelangt nur langsam in die betroffenen Landesteile. Syriens autokratischer Machthaber Baschar al-Assad versucht die Katastrophe unterdessen dafür zu nutzen, sein Regime aus der internationalen Isolation zu führen.

„Es besteht eine große Lücke zwischen dem Bedarf an humanitärer Hilfe und dem, was bisher geliefert wurde“, fasste Marcus Bachmann, Humanitärer Berater bei Ärzte ohne Grenzen, gegenüber ORF.at die aktuelle Lage in den vom Beben getroffenen Gebieten Nordwestsyriens zusammen. 4,5 Mio. Menschen leben in der Region, die unter der Herrschaft verschiedener Gruppierungen steht. 2,8 Millionen davon sind Binnenvertriebene, die hier Schutz vor dem mittlerweile zwölf Jahre andauernden Bürgerkriegs suchten.

Mindestens 180.000 Menschen verloren durch das Erdbeben das Dach über dem Kopf. Die jahrelangen Kampfhandlungen haben Spuren hinterlassen. Viele Gebäude waren bereits vor dem Erdbeben am 6. Februar zerstört oder beschädigt. Entsprechend stark limitiert sei daher die Zahl der Ausweichquartiere, so Bachmann. Ärzte ohne Grenzen ist seit über zehn Jahren als eine von wenigen NGOs in den betroffenen Provinzen Idlib und Aleppo tätig.

Erdbebenkatastrophe – lassen wir Syrien im Stich?

"Es kommen Hilferufe, und wir können einfach nicht weiter. Das ist die schlimmste Situation, die ich je erlebt habe“, sagt Fee Baumann von der Organisation Kurdischer Roter Halbmond. Hilfsorganisationen geben alles, um die Menschen zu unterstützen. Doch in den Regionen, die unter kurdischer Selbstverwaltung stehen, kommt kaum Hilfe an, weil diese von Syriens Machthaber Assad erschwert wird.

Sorge vor Infekten durch verunreinigtes Trinkwasser

Anfang der Woche erreichte ein Hilfskonvoi der NGO das Krisengebiet. Die Lkws brachten unter anderem 1.296 Zelte mit ebenso vielen Winterkits, mit denen die Behausungen gegen Kälte isoliert werden können. Ein erster Schritt, aber bei Weitem nicht ausreichend. „Jedes Zelt bietet Platz für fünf bis sieben Personen – Sie können sich vorstellen, wie viele weitere Zelte notwendig wären“, sagte Bachmann. Neben der Errichtung von Unterkünften hat das Abdecken der Grundbedürfnisse Priorität. Kleidung, Kochutensilien, Hygieneprodukte – viele Familien verloren ihr gesamtes Hab und Gut in den Trümmern.

Auch die Strom- und Trinkwasserversorgung wurde durch das Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen. Besonders Letztere bereitet Sorgen. Seit August ist der Nordwesten Syriens von einer schweren Cholera-Epidemie betroffen. Durch die Beschädigung von Wasseraufbereitungs- und -verteilanlagen bestehe eine erhöhte Gefahr, dass sich neben der Cholera auch andere durch verschmutztes Trinkwasser ausgelöste Infektionskrankheiten ausbreiten, befürchtet Bachmann.

Beschädigte Spitäler

Verschärft haben sich auch die Probleme in der medizinischen Versorgung. 48 Spitäler und Gesundheitseinrichtungen in Nordwestsyrien seien durch das Erdbeben zerstört oder beschädigt worden, berichtete Bachmann unter Berufung auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Der Druck auf die verbliebenen Einrichtungen sei enorm.

Schleppende Hilfe für Bebenopfer in Syrien

Auch zwei Wochen nach dem verheerenden Erdbeben an der Grenze zur Türkei laufen die Hilfeleistungen für die Menschen im Nordwesten Syriens nur schleppend an. Grund dafür ist auch die politische Situation innerhalb des Landes. Das syrische Regime unter Baschar al-Assad verweigerte bis zuletzt Hilfsorganisationen den Zugang in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten. Laut UNO wurden bisher fast 200 Lkws mit Hilfsgütern in den Nordwesten geschickt. Im vergangenen Jahr waren es laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen durchschnittlich 145 Lastwagen pro Woche.

Neben der Behandlungen von Verletzten geht es um die „Kontinuität der medizinischen Versorgung“ im Allgemeinen, wie Bachmann sagte. Darunter fällt etwa die Betreuung von Menschen mit chronischen Erkrankungen, Schwangerer und von Kindern unter fünf Jahren. Aufgrund der Kälte nehmen Atemwegsinfekte in den Bebenregionen zu. Unbehandelt können sie sich zur Lungenentzündung auswachsen.

Für Menschen mit medizinischem Bedarf seien die Wege in die Krankenhäuser noch länger geworden. Viele Straßen sind unpassierbar, Transportmittel zu finden ist aufwendig und teuer. „Die Patienten kommen spät, teilweise zu spät, zu uns“, sagte Bachmann. Man setze daher verstärkt auf mobile Kliniken, etwa in den vier großen Aufnahmezentren für Erdbebenopfer, die ihre Häuser verloren haben.

Medizinische und psychologische Hilfe benötigt

Offiziellen Angaben zufolge hat das Erdbeben in Syrien etwa 6.000 Menschenleben gefordert. Die tatsächliche Zahl dürfte um einiges höher liegen. Tausende werden noch vermisst. In den von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Kliniken wurden nach Angaben Bachmanns in der ersten Woche nach dem Beben 7.600 Schwerverletzte und Verletzte behandelt.

Zelte von Überlebenden
Reuters/Mahmoud Hassano
Tausende Menschen in der Erdbebenregion müssen in Zelten leben

Viele Bebenopfer haben offene Frakturen und Trümmerbrüche erlitten. Um sie körperlich wiederherzustellen, werden Hunderte orthopädische und unfallchirurgische Eingriffe vonnöten sein, so Bachmann. Hinzu kommen die seelischen Wunden. Tausende Menschen haben Angehörige verloren. Die Traumatisierten benötigen psychologische Betreuung. Ärzte ohne Grenzen wolle seine Kapazitäten in diesem Bereich in den kommenden Wochen deutlich ausweiten, sagte Bachmann.

Hilfslieferungen als politischer Spielball

Die Versorgung der syrischen Rebellengebiete war schon vor dem Erdbeben Spielball der Politik. Humanitäre Hilfsgüter, die über die Türkei geliefert wurden, erreichten bisher nur über den Grenzübergang Bab al-Hawa die Gebiete Nordwestsyriens. Das Regime in Damaskus erlaubte kürzlich die zeitlich befristete Öffnung zweier weiterer Grenzübergänge zum nördlichen Nachbarland, Bab al-Salam und al-Rai.

Hintergrund der Öffnung ist der Versuch von Machthaber Assad, die Katastrophe für politische Zwecke zu nutzen. Seit Beginn der Bürgerkrieges 2011 ist das Land international isoliert. Die Arabische Liga setzte Syriens Mitgliedschaft im selben Jahr aus. Als einzige mächtige Verbündete blieben Russland und der Iran, die offiziell und inoffiziell militärisch in den Konflikt eingriffen.

Karte zeigt Erdbeben am 6. Februar in der Türkei und Syrien
Grafik: APA/ORF; Quelle: USGS/Afad

Assad ging mit aller Gewalt gegen den Aufstand vor. Die Vorwürfe gegen sein Regime reichen von Angriffen mit Giftgas, Bombardements von Schulen und Spitälern bis hin zur Einrichtung eines landesweiten Netzes von Foltergefängnissen.

Mittlerweile sind die Fronten erstarrt. Einen Friedensschluss zwischen dem Regime und den unterschiedlichen Rebellengruppen, die insgesamt ein Drittel des Landes kontrollieren, gibt es bis heute nicht. In der arabischen Welt wird nach einem pragmatischen Umgang mit dem Autokraten in Damaskus gesucht. „Der Konsens wächst in der arabischen Welt, dass der Status quo nicht praktikabel ist“, sagte der saudische Außenminister Faisal bin Farhan Al Saud bei der Münchner Sicherheitskonferenz.

Riad als größte Hürde

Das Erdbeben bietet Assad nun Gelegenheit zur Kontaktaufnahme mit den Staaten der Region. Der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate, die bereits 2018 ihre Botschaft in Damaskus wiedereröffnet hatten, war bereits zu Gast bei Assad, ebenso wie sein Amtskollege aus Jordanien. Assad wiederum wurde diese Woche vom Sultan des Oman empfangen. Zudem telefonierte er mit Ägyptens Staatschef Abdel Fatah al-Sisi – zum ersten Mal seit dessen Amtsantritt vor fast einem Jahrzehnt.

Menschen sitzen am Boden nach Erdbeben
Reuters/Khalil Ashawi
Erdbebenopfer in der Provinz Idlib: Humanitäre Hilfe für Rebellengebiete war bereits in Vergangenheit ein Spielball der Politik

Die größte Hürde für Assad bleibe aber Saudi-Arabien, analysierte das Magazin Al-Monitor. Das Verhältnis der beiden Staaten bewegte sich in den vergangenen Jahrzehnten zwischen relativer Harmonie und offener Feindschaft. 2011 unterstützte Riad Aufrufe zum Sturz Assads – nicht zuletzt wegen dessen Nähe zu Teheran, dem regionalen Konkurrenten Saudi-Arabiens.

Die Erdbebenkatastrophe könnte auch hier zu einer ersten sanften Annäherung beitragen. Saudi-Arabien schickte einen Hilfskonvoi über die Türkei in die nordwestsyrischen Rebellengebiete. Später wurden über Aleppo Hilfsgüter in die Erdbebengebiete im Herrschaftsbereich des syrischen Regimes eingeflogen. Gefragt nach einem möglichen Besuch in Damaskus erklärte der saudische Außenminister bei der Münchner Sicherheitskonferenz laut Al-Monitor, er wolle entsprechenden „Gerüchten“ keinen Vorschub leisten – was die Spekulationen erst recht befeuerte.