Frontex Beamte an der Grenze zwischen Griechenland und Albanien
Reuters/Florion Goga
Frontex-Skandale

Zweifel an Imagepolitur der Grenzschützer

Der Ruf der EU-Grenzschutzagentur Frontex ist in den letzten Jahren stark beschädigt worden. Frontex würde Menschenrechtsverletzungen vertuschen, hieß es mehrfach. Ex-Chef Fabrice Leggeri musste deshalb den Hut nehmen. Hans Leijtens, der ihm ab März nachfolgen wird, gelobte Besserung. Dabei werfen jüngste Berichte erneut unangenehmes Licht auf die Grenzschützer. Wie steht es um den versprochenen Kulturwandel? ORF.at hat nachgefragt.

Noch bevor der Niederländer Leijtens sein Amt antritt, waren Mitte Februar interne Dokumente von der „New York Times“ geleakt worden. Der Frontex-Grundrechtsbeauftragte Jonas Grimheden sprach von „glaubwürdigen Berichten“, laut denen griechische Behörden Migrantinnen und Migranten an See- und Landgrenzen systematisch abweisen – ihnen werde der Schutz verweigert, sie würden teils erniedrigt und Kinder von ihren Eltern getrennt. Dabei ging es um die letzten beiden Quartale des Jahres 2022.

Grimheden empfahl deshalb die Suspendierung des Frontex-Einsatzes. Würde Frontex unter jenen Voraussetzungen die Operation fortsetzen, dann würde es gegen das Gesetz und interne Regeln verstoßen, meinten Fachleute. Pikant ist, dass sich Grimheden in einer offiziellen Stellungnahme Tage später für einen verstärkten Einsatz von Frontex in Griechenland aussprach, eine vollkommen konträre Forderung zu jener in dem geleakten Bericht also.

Der neue Frontex Chef Hans Leijtens
Reuters/Johanna Geron
Der Niederländer Hans Leijtens will das Vertrauen in Frontex wiederherstellen

Frontex-Grundrechtsbeauftragter erklärt sich

Die Bedenken hätten ihn dazu veranlasst, den Druck mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu erhöhen, teilte Grimheden auf ORF.at-Nachfrage mit. „Wir sehen jetzt Ergebnisse in Form von Verfahrensschritten, die von den griechischen Behörden ergriffen werden“, hieß es weiter. Das müsse nun an Ort und Stelle zu Maßnahmen führen.

Frontex

Frontex wurde 2004 von der EU gegründet und nach der 2015 begonnenen Flüchtlingskrise zur Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache ausgebaut. Der Grenzschutz fällt zwar weiter in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten, Frontex soll aber für ein gemeinsames Management der Außengrenzen sorgen und nationale Grenzschutzeinheiten unterstützen.

Eine größere Präsenz von Frontex hätte „mehr Informationen und Einblick“ zur Folge, wodurch die Agentur die Behörden besser beraten könne, erklärte Grimheden auch. 390 Frontex-Beamte hat die Agentur derzeit in Griechenland stationiert.

Eine Operation hat Frontex bisher erst einmal ausgesetzt – 2021 in Ungarn. Die Entscheidung darüber obliegt dem Chef bzw. der Chefin der Agentur. Mit März ist das also Leijtens. Dass sich der Niederländer zum Aussetzen der Operation in Griechenland entschließen könnte, scheint angesichts des rigorosen EU-Asyl- und Migrationskurses unwahrscheinlich, sagte die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger zu ORF.at. Frontex wollte sich dazu auf Nachfrage noch nicht äußern.

Neuer Chef will Vertrauen wiederherstellen

Der niederländische Generalleutnant Leijtens versprach erst kürzlich, das Vertrauen in Frontex wiederherstellen zu wollen. Als künftige Leitprinzipien nannte er Rechenschaftspflicht, die auch für jeden einzelnen Grenzschützer gelten solle, Grundrechte, die er nicht im Gegensatz zum Grenzmanagement sieht, sowie Transparenz als Grundlage für seine Arbeit. Die Frontex-Leitung übernimmt der Niederländer von der Lettin Aija Kalnaja, die die Amtsgeschäfte übergangsweise geführt hatte. Er war in den Niederlanden bisher für den Schutz der Landesgrenzen zuständig.

Das Bekenntnis machte er aus einem guten Grund: Frontex werden regelmäßig Menschenrechtsverletzungen wie die Beteiligung an illegalen und teils gewaltsamen Abschiebungen von Asylsuchenden in Drittländer, etwa von Griechenland aus, vorgeworfen. Beweise für das Vorgehen hatte im vergangenen Jahr das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) erbracht. Fabrice Leggeri, der seit 2015 Chef der Agentur war, trat daraufhin zurück. Ihm wurde vorgeworfen, die Rechtsbrüche vertuscht zu haben.

Der ehemealige Frontex-Chef Fabrice Leggeri
APA/AFP/Skazynski
Ex-Chef Fabrice Leggeri reichte im Vorjahr seinen Rücktritt ein

Frontex und die „Quadratur des Kreises“

Die Migrationsforscherin Kohlenberger und die Plattform für internationale Kooperation bei nicht dokumentierten Migrantinnen und Migranten (PICUM) reagierten skeptisch auf Leijtens’ Versprechen. „Wir kennen solcherlei Versprechen, die wurden in der Vergangenheit selten eingelöst“, meinte Kohlenberger. „Die Schwierigkeit, mit der Frontex tatsächlich konfrontiert ist, ist, dass diese Agentur eine Art Quadratur des Kreises schaffen soll“, so die Expertin.

„Man soll auf der einen Seite die Grenzen schützen, das bedeutet vor allem Ankunftszahlen niedrig halten, aber auf der anderen Seite sollen dabei die Menschenrechte gewahrt werden“, sagte sie weiter. „Das klingt in der Theorie sehr schön, in der Praxis ist das aber sehr häufig gar nicht möglich, weil es ja das zentrale Recht auf Asylantragsstellung und Einzelfallprüfung gibt, und gegen dieses Recht wird sehr oft verstoßen, wenn Menschen zurückgewiesen werden – vulgo Grenzen geschützt werden“, so Kohlenberger. Einen Ausweg aus dem Dilemma sieht sie nicht.

Frontex Schiff nach der Rettung von Migranten bei Lesbos
Reuters/Alkis Konstantinidis
Frontex sieht sich immer wieder mit schweren Vorwürfen – wie der Vertuschung von Pushbacks in der Ägäis – konfrontiert

NGO zweifelt an Ambitionen von Neo-Chef

Dass die neue Führung die „Menschenrechtsbilanz“ von Frontex verbessere, schließt Marta Gionco von PICUM kategorisch aus. „Frontex ist und bleibt eine Agentur, deren Auftrag es ist, schädliche Migrationspolitik durchzusetzen, von der Intensivierung von Abschiebungen bis hin zur Externalisierung des gewaltsamen Grenzmanagements in Drittländern“, heißt es in einem Statement gegenüber ORF.at.

Skeptisch äußerte sich das NGO-Netzwerk auch hinsichtlich Leijtens selbst. Leijtens sei kein neues Gesicht bei Frontex: „Er war Mitglied des Vorstands von Frontex in den Jahren, als die Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF feststellte, dass Frontex-Beamte von Pushbacks von Migranten im Mittelmeer wussten“, hieß es gegenüber ORF.at weiter. Es sei unklar, was Herr Leijtens getan habe, um diese Verstöße zu beheben.

Probleme bei Prestigeprojekt

Dass die EU-Kommission es mit der Imagepolitur von Frontex ernst meint, wurde zuletzt ebenso angezweifelt. Der Grund? Der „Spiegel“ berichtete im Dezember, dass die EU-Kommission die Interimschefin Kalnaja im Herbst ins Rennen für den Posten geschickt hatte, obwohl der Kommission bekannt war, dass die Antikorruptionsbehörde OLAF Ermittlungen gegen Kalnaja aufgenommen hatte. Um welche Vorwürfe es geht, ist unklar. Die EU habe nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt, meinten Kritiker.

Neben Menschenrechtsverletzungen sah sich die Agentur in den vergangenen Jahren intern auch mit Mobbing- und Missmanagementvorwürfen konfrontiert. Probleme gibt es Berichten zufolge zudem bei der Umsetzung eines zentralen Projekts der Agentur: dem Aufbau eines eigenen uniformierten Dienstes der EU. Die ständige Reserve soll bis 2027 auf 10.000 Beamte ausgeweitet werden.

Frontex Grenzüberwachung in Griechenland
IMAGO/Nicolas Economou
Irregulärer Grenzübertritte erreichten im Vorjahr den höchsten Wert seit 2016

Enormes Budget, wenig Erfolg?

Die Expertin Kohlenberger führt nicht zuletzt das enorme Budget der Grenzschützer ins Treffen – keiner anderen EU-Agentur stehen so viele EU-Mittel zur Verfügung. Und vor allem habe auch keine andere Agentur eine so große Aufstockung ihres Budgets erfahren, sagte Kohlenberger.

Standen Frontex im Jahr 2005 noch 6,2 Millionen Euro zur Verfügung, so waren es 2022 bereits 754 Mio. Euro. „Interessanterweise sind aber die Ankunftszahlen irregulärer Migrantinnen und Migranten in diesem Zeitraum überhaupt nicht zurückgegangen, im Gegenteil“, sagte Kohlenberger weiter.

Im Jahr 2022 versuchten rund 330.000 Menschen, auf irreguläre Weise in die EU zu gelangen. Das war der höchste Wert seit 2016, wie Frontex in Warschau mitteilte. Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine, die in die EU einreisen, werden bei dieser Statistik nicht mitgezählt. Die EU-Asylagentur (EUAA) verzeichnete 2022 wiederum 966.000 Asylanträge in den 27 Mitgliedsländern sowie der Schweiz und Norwegen.

Ungewisse Zukunft für Asyl- und Migrationspakt

Für Kohlenberger stellt sich damit die Frage, wie effektiv der Außengrenzschutz sein kann. „Bedeutet effektiv im Grunde, dass Menschenrechtsverletzungen in Kauf genommen werden müssen? Und sollte man nicht auch auf andere Strategien setzen, wenn man sieht, dass diese Aufstockung von Frontex alleine nicht dazu führt, das Schlepperwesen zu bekämpfen oder irreguläre Ankünfte zu senken?“

Bei dem vergangenen EU-Migrationsgipfel Anfang Februar in Brüssel konnten sich die Mitgliedsstaaten einzig auf einen verstärkten Außengrenzschutz einigen. Thema war das auch bei der Zweiten Europäischen Grenzschutzkonferenz am Freitag in Athen. Von den neun am Tisch liegenden Gesetzesvorschlägen des Asyl- und Migrationspakts wurde nach wie vor nur ein einziger umgesetzt (konkret: die EUAA). Dass es vor den Europawahlen 2024 zu einer Einigung kommt, ist unwahrscheinlich.