Karolina Lindholm Billing
UNHCR/Victoria Andrievska
UNHCR in der Ukraine

„Es ist nicht die Zeit, mit Hilfe aufzuhören“

Die Schwedin Karolina Lindholm Billing vertritt das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Ukraine seit Mai 2021. Billing war schon an vielen Krisenherden weltweit stationiert, vor ihrer jetzigen Tätigkeit war sie viereinhalb Jahre stellvertretende UNHCR-Vertreterin im Libanon. Ihre Einsätze zu vergleichen fällt Billing „von Natur aus“ schwer, doch „Teile der Verwüstung in der Ukraine sind in ihrer Brutalität die schlimmsten, die ich je gesehen habe“, sagt Billing im Gespräch mit ORF.at.

Der Krieg in der Ukraine habe die Gesellschaft in jeglicher Hinsicht getroffen, insofern sei es „bemerkenswert, wie die Menschen immer noch jeden Tag aufwachen, ihre Kinder aufwecken, Frühstück machen und sich für die Schule oder die Arbeit herrichten, obwohl sie inmitten eines andauernden Krieges leben. Und sehr oft gehen in der Nacht die Sirenen los, weil es Anzeichen für einen Angriff gibt.“ Der Schlaf werde also regelmäßig gestört – sofern überhaupt daran zu denken sei.

Billing spricht von „verschiedenen Zeitzonen“ in der Ukraine: Aus den anhaltend umkämpften Regionen Charkiw, Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson würden immer noch täglich Menschen in sicherere Landesteile zu fliehen versuchen. Dann gäbe es diejenigen, die schon vor vielen Monaten geflohen seien und jetzt als Binnenvertriebene leben müssten. Und andere seien im Frühsommer 2022 in die Gebiete um Kiew und die Nordukraine zurückgekehrt, nachdem die Russen ihre Truppen aus diesen Gebieten abgezogen hatten.

Zerstörte Gebäude in Dnipro
UNHCR/Colin Delfosse
Der russische Angriff auf die Stadt Dnipro im Jänner zählt zu den blutigsten des Krieges – Dutzende Menschen kamen ums Leben

Über fünf Millionen Binnenvertriebene

Es gäbe also Menschen, sagt Billing, „die gerade angegriffen, getötet oder verletzt werden oder fliehen, und gleichzeitig Menschen, die schon vor Monaten geflohen sind und versuchen herauszufinden, wie es weitergehen soll“. Die Zahl der Binnenvertriebenen beläuft sich bereits auf fünf bis sechs Millionen Menschen. „Einige mieten eine Wohnung an dem Ort, an dem sie Sicherheit gefunden haben. Andere leben bei Gastfamilien, die ihre Häuser großzügig geöffnet haben. Und die sozioökonomisch oder anderweitig gefährdetsten Menschen leben in Sammelunterkünften im ganzen Land.“

„Die meisten dachten wirklich, dass es nur ein kurzer Krieg sein würde“, so Billing. „Sie sagten, okay, wir haben überlebt. Wir haben einen Platz gefunden, wo wir erst einmal schlafen können. Aber sie haben sich schon Gedanken darüber gemacht, wann sie wieder in ihre alte Heimat zurückkehren können. Und jetzt ist fast ein Jahr vergangen, und für einige gibt es immer noch keine Möglichkeit, in ihre Häuser zurückzukehren, weil sie völlig zerstört sind oder sich unter der vorübergehenden militärischen Kontrolle der Russischen Föderation befinden.“

Blick in zerstörte Wohnung in Makariv
UNHCR/Andrew McConnell
Die Rückkehr in ihr einstiges Zuhause ist für Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer unmöglich

Mehr Rückkehrer im Frühling zu erwarten

Zurückkehren würden derzeit nur sehr wenige, „weil wir immer noch im tiefsten Winter sind. Aber je nachdem, wie sich der Krieg und die Sicherheitslage entwickeln, erwarten wir, dass im Frühling mehr Menschen zurückkehren werden. Und dann wird es wirklich wichtig sein, dass wir hier vor Ort sind und Unterstützung leisten, zum Beispiel bei der Instandsetzung von Häusern.“ Die Menschen müssten Solidarität erfahren, um sich etwas zu regenerieren und das Gefühl zu haben, dass es eine Zukunft für sie in der Ukraine gibt.

Karolina Lindholm Billing
UNHCR/Victoria Andrievska
Karolina Lindholm Billing

Das UNHCR ist mit rund 330 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Ukraine vertreten und arbeitet mit mehr als 650 nationalen und internationalen Hilfsorganisationen zusammen, die Arbeit konzentriert sich auf drei Hauptbereiche. Unter den Namen „Schutz“ fällt die Unterstützung beim Zugang zu grundlegenden Rechten, so wird etwa Hilfe für diejenigen angeboten, die ihre Dokumente unter Beschuss oder auf der Flucht verloren haben. Der zweite Bereich ist die Bereitstellung von Notunterkünften und die Reparatur von beschädigten Häusern und Wohnstätten.

Hilfslieferungen in „Hochrisikogebiete“ prioritär

Schließlich gibt es Hilfe im direktesten Sinn, also Bargeld für Lebensnotwendiges bzw. Sachleistungen wie Decken und Hygieneartikel. Priorität haben dabei Hilfslieferungen in „Hochrisikogebiete“, sagt Billing. „Dabei handelt es sich um Städte und Siedlungen, die weniger als 20 Kilometer von der aktiven Front entfernt sind, an der die russischen und ukrainischen Streitkräfte kämpfen. Wenn man sich zu diesen Einsätzen begibt, hört und spürt man die Nähe des Krieges sehr deutlich.“

Bisher haben das UNHCR und seine NGO-Partner rund 4,5 Millionen Menschen in der Ukraine mit Schutzdiensten, Bargeld, lebenswichtigen Gütern und der Bereitstellung von Unterkünften versorgen können. Und Billing betont: „Ich möchte der österreichischen Regierung und den Menschen in Österreich für die finanzielle Unterstützung dieser Programme danken, denn Sie haben mit Ihren Spenden dazu beigetragen, dass Organisationen wie das UNHCR den vom Krieg betroffenen Menschen helfen können.“

Viele Arten der Betroffenheit

Um zu veranschaulichen, wie sehr die Bevölkerung zu leiden hat, bringt Billing das Beispiel einer fiktiven „ganz normalen Familie mit Mutter, Vater und drei Kindern: Es könnte sein, dass der Vater an der Front kämpft oder vielleicht getötet oder verletzt wurde. Die Mutter mit den Kindern ist geflohen, vielleicht wurde ihr Haus zerstört. Ihr ganzes Hab und Gut, die Möbel und das Spielzeug der Kinder und alles, was sie besaßen, ist weg. Sie leben jetzt als Binnenvertriebene in einer Sammelunterkunft, die nie für eine langfristige Unterbringung gebaut wurde. Sie sind weit weg von ihren Freunden, von ihrer Gemeinschaft. Jeden Tag hören sie Sirenen, und die Strom- und Wasserversorgung ist wegen der Angriffe auf die Infrastruktur unterbrochen. Die Zukunft ist sehr ungewiss."

Zerstörtes Gebäude in Mykolaiv
UNHCR/Colin Delfosse
Mykolajiw an der ukrainischen Südfront ist seit dem Ausbruch des Krieges heftig umkämpft

Trotz aller Zerstörung bemüht sich die ukrainische Bevölkerung um Normalität. Etwa seien die meisten Schulen abseits der Front nach wie vor geöffnet, sagt Billing. Allerdings müsse improvisiert werden, viele der Lehrstätten würden im Schichtbetrieb geführt: eine Woche Präsenzunterricht, eine Woche Onlinekurse. Es sei vorgeschrieben, dass Schulen über Bunker verfügen müssen, und das sei nicht bei allen der Fall. Einstige Schulen in Mariupol würden nur noch Onlineunterricht abhalten, da die Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler inzwischen als Binnenvertriebene im ganzen Land verstreut seien. Das Fehlen realer Kontakte würde das psychische Wohlbefinden freilich sehr beeinträchtigen.

Wunden und Narben ukrainischer Kinder

Die UNO schätzt, dass bisher 8.000 Zivilisten, darunter 500 Kinder, im Ukraine-Krieg ums Leben gekommen sind. Das Alltag derer, die überlebt haben, hat sich seit Kriegsausbruch schlagartig verändert. Die Erlebnisse hinterlassen Wunden und Narben, vor allem bei den Kleinsten.

„Unglaubliche“ Dankbarkeit

Die Dankbarkeit, die die Menschen für jede Art der Hilfe ausdrücken würden, sei „unglaublich“, sagt Billing. Manchmal käme ihr das sogar „zu viel“ vor angesichts des kollektiven Leidens im Land. Dass die Menschen die „Solidarität der Welt“ mit ihnen spüren würden, helfe ihnen jedenfalls sehr, Kraft und Entschlossenheit aufzubringen, die Lage zu überstehen. Oft gebe es Bedenken, so Billing, dass Spenden und andere Hilfsleistungen die betroffenen Menschen auch wirklich erreichen würde. In diesem Fall käme jede Unterstützung auch garantiert an, selbst in den Hochrisikogebieten. „Ich hoffe, dass Österreich weiterhin an der Seite der Menschen steht und sie unterstützt, denn jetzt ist nicht die Zeit aufzuhören.“