Berliner Kundgebung gegen den Krieg, 25. Februar 2023
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Ukraine-Debatte

Autor warnt vor trügerischem Frieden

Der Standpunkt zum weiteren Verhalten gegenüber Russland und der Ukraine variiert in Europa – nicht nur nach politischer Herkunft. Gerade der Standort entscheidet mit über die Perspektive. Während sich Deutschland aktuell in einer neuen „Friedensdebatte“ einrichtet und in Teilen der Bevölkerung zu einem Stopp der Waffenlieferungen und einem Ja zu Verhandlungen ausspricht, sehen die Positionen in direkterer Nachbarschaft zu den beiden Ländern schon anders aus. Vor einem trügerischen Frieden warnt einer der meistgelesenen Autoren der Slowakei, Michal Hvorecky, das friedensbewegte Deutschland.

In Deutschland macht dieser Tage ein magisches Datum die Runden. Es geht um den 10. Oktober 1981, als sich 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten versammelten, um gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Unterstützung der sozialdemokratisch-liberalen Regierung unter Helmut Schmidt (SPD) zu demonstrieren. Verhandeln und mit Mittelstreckenwaffen nachrüsten, lautete im Schatten des damaligen sowjetischen Afghanistan-Einmarsches die Losung der NATO, die durch die Stationierung atomarer Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden die deutsche Friedens- und Grünbewegung mit lostrat. Berühmte Intellektuelle schlossen sich dem Tross damals an. Schriftsteller Heinrich Böll war von Anfang an dabei, Joseph Beuys folgte bei der Neuauflage der Demo im Juni 1982, nachdem er davor im Einbaumboot medienwirksam den Rhein überquert hatte.

Im Winter 2022/23 scheinen zwei prominente wie gegensätzliche Frauen, Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, diesen deutschen Friedensdiskurs wieder aufleben zu lassen.

Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine, Alice Schwarzer
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Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und Alice Schwarzer beim „Aufstand für Frieden“ am 25.2.2023 in Berlin

Mit ihrem „Manifest für den Frieden“ fordern sie die deutsche Regierung auf, Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zu unterstützen. Momentan, so zitiert etwa der „Spiegel“ (Printausgabe) Unterstützer des Manifests, würde man mit den Waffenlieferungen an die Ukraine nur die Fortsetzung eines Krieges befeuern, den die Ukraine gegen die Atommacht Russland nicht gewinnen könne. Erneut steht die Gefahr eines Atomkrieges im Mittelpunkt aller Sorgen. Was fehle, so der „Spiegel“ – „eine schlüssige Erklärung, wie Verhandlungen mit jemandem gehen sollen, der offensichtlich nicht verhandeln will“. Nicht zuletzt durch das Lager der Grünen geht nicht erst seit dem Manifest erneut ein Riss – und er erinnert nicht wenige auch an die Gespaltenheit der Partei, als sich Deutschland im Rahmen der NATO am Vorgehen im Kosovo-Konflikt beteiligte. „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Faschismus, nie wieder Völkermord“ hatte der damalige Grünen-Außenminister Joschka Fischer seiner Partei die Koordinaten für seine Entscheidung pro Eingreifen 1999 genannt.

Berlin: Demonstration für den Frieden

Am Brandenburger Tor in Berlin haben sich mehrere tausend Menschen zu einer Kundgebung für Verhandlungen mit Russland im Ukraine-Krieg versammelt. Zu der Demonstration hatten die deutsche Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht und die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer aufgerufen. Die Polizei sprach einige Zeit nach Beginn der Kundgebung von 10.000 Teilnehmenden.

Geteiltes Stimmungsbild in Deutschland

63 Prozent der Befragten einer vom „Spiegel“ beauftragten Onlineumfrage des Civey-Instituts (Sample: 5.000, Zeitraum: 23. Jänner bis 22. Februar 2023) wünschen sich von der Bundesregierung ein stärkeres Engagement für Friedensverhandlungen. 42 Prozent der Befragten geben dabei an, Ziel der Verhandlungen müsse die Wiederherstellung der Grenzen der Ukraine vor der Annexion der Krim sein.

300.000 im Bonner Hofgarten 1981
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Bonner Hofgarten, 10. Oktober 1981

Genau diese Forderung nach einem Waffenstillstand und den Wunsch nach Verhandlungen hält der bekannte slowakische Autor Hvorecky, der seit Jahren auch im deutschen Feuilleton publiziert, für eine gefährliche Illusion. In einem neuen Text warnt er vor dem „totalen Frieden“, wie er überspitzt formuliert: „Heute fordern sehr viele Menschen, auch zahlreiche wichtige europäische Intellektuelle, einen sofortigen Waffenstillstand, aber das ist eine große gefährliche Lüge, eine trügerische Illusion, die ich den totalen Frieden nenne. Einen Frieden, der den Macht- und Gewaltabsichten des russischen Aggressors untergeordnet ist. Ein Frieden auf Kosten der freien Ukrainer. Frieden im Interesse eines kleptokratischen Regimes, das seine schmutzigen Geschäfte gern fortsetzen will.“

Kurz nach der Niederlage der Wehrmacht in Stalingrad, so erinnert Hvorecky, habe der deutsche Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast den totalen Krieg ausgerufen. Goebbels habe die Taktik der verbrannten Erde rechtfertigen und sich eine immer brutalere Kriegstaktik absegnen lassen wollen. „Sieg oder Untergang“ sei die Losung gewesen, so der Autor.

„Ohne Schlacht in Kiew hätten wir einen neuen Nachbarn“

„Vor einem Jahr hat Russland die Schlacht in Kiew verloren, und das war ein Schock für Putin“, schreibt Hvorecky: „Wäre das nicht passiert, hätten auch die Slowakei, Ungarn oder Rumänien einen neuen, beängstigenden, expandierenden Nachbarn bekommen, also auch die ganze Europäische Union.“

Alice Schwarzer, Hanna Schygulla, Jürgen Habermas oder Valie Export hätten keine Ahnung, „dass ihre Unterschriften und Aufrufe, ‚die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen‘, auf die übelste Art und Weise auf unzähligen osteuropäischen Fake-News-Kanälen missbraucht“ würden: „Sie verstehen die slawischen Fremdsprachen nicht, haben diese unkontrollierten sozialen Desinformationsmedien, die der Kreml massiv verbreitet, nie gelesen oder gesehen.“

Autor Michal Hvorecky
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Autor Hvorecky: „Haben den Informationskrieg verloren“

„Den Informationskrieg haben wir offensichtlich längst verloren. Die westlichen Staaten haben gegenüber russischen hybriden Bedrohungen die Geschlossenheit untereinander kaum gestärkt“, so der Autor: „Der totale Krieg der Nazis war kein Krieg, sondern ein Völkermord. Der totale Frieden ist kein Frieden, weil er den russischen Genozid rechtfertigt und seine Fortsetzung zulässt. Der totale Frieden wäre ein Verrat an der Ukraine.“

Wienfried Nachtwei, ehemaliger Oberstudienrat und Gründungsmitglied der Grünen der ersten Stunde, versteht den Antrieb vieler Pazifisten. Immer noch sieht er sich auch als Teil der Friedensbewegten, fügte zuletzt aber hinzu: „Es gibt auch den Wunsch, nicht mehr wehrlos zu sein.“ Das sei für die Deutschen auch eine „Lektion aus dem deutschen Vernichtungswahn und dem Zweiten Weltkrieg“ – das, so Nachtwei, werde von vielen Pazifisten immer noch ignoriert.

„Ein Weg, auf dem es keine Rückkehr gibt“

Der größte Rechtsbruch des Krieges bestehe darin, „dass er ein Weg ist, auf dem es keine Rückkehr gibt“, hielt die österreichische Autorin Marlene Streeruwitz in einem Interview mit Paul Jandl vor einem halben Jahr in der „NZZ“ fest. Und bringt damit die Misere in der Debatte bei allem Gutgemeinten der verschiedenen Seiten im Westen mit auf den Punkt: „Wir waren eigentlich schon ganz woanders und jetzt sind wir wieder in diesem tödlichen Zustand.“ Ob man diesem tödlichen Zustand mit einem möglichst raschen Friedensschluss entkäme, bleibt wohl Gegenstand weiterer Debatten – und politisch ausgenützter Stellungskonflikte.