Zehn Wochen vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei war das Bündnis vergangene Woche zerbrochen. Der „Sechsertisch“ sei nicht mehr in der Lage, „in seinen Entscheidungen den Willen des Volkes wiederzugeben“, sagte die Vorsitzende der nationalistischen Iyi-Partei, Meral Aksener, am Freitag.
Grund für den Streit war die Frage, wer bei der am 14. Mai geplanten Wahl gegen Erdogan antreten soll. Die größte Oppositionspartei CHP wollte ihren Parteichef Kemal Kilicdaroglu aufstellen und wurde dabei von vier kleineren Parteien unterstützt. Aksener machte deutlich, dass sie das nicht mittrage, weil sie der Ansicht sei, dass der Oppositionsführer schlechte Gewinnchancen hat. Sie wollte den beliebten Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu oder den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, nominieren. Beide CHP-Politiker schneiden in Umfragen besser ab als ihr Parteichef.

Erdogans schwierigste Wahl
Akseners Austritt aus dem Bündnis hatte zu großer Aufregung in der Opposition geführt. Sie wurde vor allem für die Schärfe ihrer Aussagen kritisiert: Sie hatte etwa gesagt, die Wahl zwischen Erdogan und Kilicdaroglu sei eine „zwischen Tod und Malaria“. Fachleute werteten Akseners Ausscheren als „einen schweren Schlag“ für die Aussichten der Opposition und sprachen von einem „Geschenk“ für Erdogan. Mit dem Bündnis hatten viele Erdogan-Kritiker und -Kritikerinnen die Hoffnung verbunden, Stimmen aus einem breiten politischen Spektrum auf einen Kandidaten vereinen zu können.
Erdogan dagegen stand vor der größten Herausforderung in seinen zwei Jahrzehnten an der Spitze der Türkei. Die anhaltende Wirtschaftskrise und die nun langsam sinkende Hyperinflation haben dazu geführt, dass seine Popularität enorm gelitten hat. Dazu kam zuletzt der Ärger vieler Bürgerinnen und Bürger über das unzureichende Krisenmanagement der Regierung nach der Erdbebenkatastrophe vom 6. Februar. Eine Umfrage sah Erdogans AK-Partei zuletzt unter der psychologisch wichtigen 30-Prozent-Marke.
Türkische Opposition wieder vereint
Wenige Tage nach einem Zerwürfnis ist in der Türkei ein Oppositionsbündnis gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan vorerst wieder vereint. Die Chefin der nationalkonservativen Iyi-Partei, Meral Aksener, nahm in Ankara überraschend an einem Treffen mit fünf weiteren Parteien teil, obwohl sie zuvor die Zusammenarbeit aufgekündigt hatte. Grund für den Streit war die Frage, wer bei der am 14. Mai geplanten Präsidentenwahl gegen Erdogan antreten soll.
Rückzug vom Rückzug
Über das Wochenende dürfte ein Umdenken der Opposition stattgefunden haben, am Montag schlug die Iyi unter Aksener für eine Rückkehr in die Allianz einen Kompromiss vor. Kilicdaroglu soll wie geplant als Kandidat aufgestellt werden, die beiden Bürgermeister sollen im Falle eines Wahlsieges zu Vizepräsidenten ernannt werden. Die CHP akzeptierte den Vorschlag. Montagabend wurde mit Kilicdaroglu der gemeinsame Oppositionskandidat verkündet.
Neben der CHP und der Iyi-Partei gehören vier kleinere Parteien zum Sechserbündnis. Darunter sind ehemalige Weggefährten Erdogans, etwa die Deva-Partei des früheren Wirtschaftsministers Ali Babacan und die Zukunftspartei des ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu. Das Oppositionsbündnis wirbt unter anderem damit, das Präsidialsystem – unter dem Erdogan seit 2018 weitreichende Befugnisse hat – wieder abzuschaffen und das Parlament zu stärken.

Umstrittene Kandidatur
Der 69 Jahre alte Erdogan hatte im Jänner angekündigt, per Dekret vorgezogene Wahlen am 14. Mai zu veranlassen – regulär wäre im Juni gewählt worden. Das kann der Verfassung zufolge entweder mit Zustimmung von 60 Prozent der Abgeordneten im Parlament oder per Dekret durch den Präsidenten geschehen. Die Opposition argumentiert, dass Erdogan – der 2014 zum ersten Mal und 2018 zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt wurde – der Verfassung zufolge nur dann ein drittes Mal kandidieren darf, wenn das Parlament eine Neuwahl erzwingt.
Im Parlament verfügt Erdogans regierende AKP mit ihrem ultranationalistischen Partner MHP jedoch nur über eine einfache Mehrheit – könnte also ohne die Opposition keine Neuwahl beschließen. Nach Ansicht der Regierung steht der Kandidatur jedoch nichts im Wege. Erdogan sei 2018 nach einer Verfassungsänderung als erster Präsident in einem neuen Präsidialsystem gewählt worden – seine vorherige Amtszeit zähle also nicht. Verfassungsrechtler sind geteilter Meinung, ob eine weitere Kandidatur möglich ist oder nicht.
Die AKP tritt im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP und der kleinen nationalistisch-religiösen BBP zu den Wahlen an. Erwartet wird ein unfairer Wahlkampf: Ein Großteil der Medien steht unter der Kontrolle der Regierung, die Justiz gilt als politisiert. Der HDP droht darüber hinaus ein Verbot wegen des Vorwurfs des Separatismus in einem Verfahren, das Menschenrechtler als politisch motiviert bezeichnen.