Ukrainischer Soldat in Bachmut
Reuters/Oleksandr Ratushniak
Bachmut

Russlands langer Weg zum Pyrrhussieg

Aus der seit Monaten umkämpften Stadt Bachmut haben sich zuletzt die Hinweise gemehrt, dass die letzten verbliebenen ukrainischen Truppen einen strategischen Rückzug antreten könnten. Doch am Montag erklärte das ukrainische Präsidialamt, die Armeespitze wolle die Stellungen in Bachmut sogar verstärken. Um die Stadt selbst geht es laut Militärexperten gar nicht mehr – und selbst wenn Bachmut falle, sei das ein Pyrrhussieg für Russland.

Seit Monaten wird um die Stadt, wo vor dem Krieg etwa 74.000 Einwohnerinnen und Einwohner lebten, gekämpft. Sie wurde dabei praktisch komplett zerstört. Russland würde also im Falle einer Einnahme die Kontrolle über ein Ruinenfeld haben. Auch intakte Produktionsstätten, oftmals ein Grund für eine Einnahme, gibt es keine. Auch eine anderweitige strategische Bedeutung für den weiteren Verlauf des Kriegs fehlt laut Experten.

Für die russische Militärführung hat die Einnahme hingegen große Symbolkraft, da sie Erfolge vorweisen muss. Nach Monaten des verlustreichen Kampfs die Stadt doch nicht zu erobern wäre ein Zeichen der Schwäche. Für die Ukraine wurde Bachmut erst mit dem großen Wert der Stadt für Moskau relevant – und das nicht nur symbolisch: Mit der Verteidigung der Stadt wurden russische Truppen gebunden, die Armeeführung konnte sie nicht an anderen Fronten, wo es für die Ukraine möglicherweise heikler wäre, einsetzen.

Ukrainische Soldaten auf einem gepanzerten Fahrzeug nach Bachmut
AP/Evgeniy Maloletka
Ukrainische Soldaten nahe Bachmut

Verluste als einziger Faktor für weiteren Verlauf

Und man konnte den russischen Truppen enorme Verluste zufügen. Manche Quellen sprechen davon, dass Russland mehr als zehntausend Mann verloren hat. Der Sekretär des nationalen Sicherheitsrates in der Ukraine, Olexij Danilow, sprach zuletzt davon, dass in Bachmut das Verlustverhältnis bei eins zu sieben liege: Auf einen außer Gefecht gesetzten Ukrainer würden sieben Russen kommen. Das mag ukrainische Schönfärberei sein, meinen auch Militärexperten – aber dass die russischen Verluste weit größer sind als die ukrainischen, scheint evident.

Schlacht um Bachmut

Der Kampf um Bachmut im Osten der Ukraine hält weiter an. Gerüchte, die ukrainischen Truppen zögen sich zurück, haben sich am Montag nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Die Verteidigung der Stadt soll verstärkt werden, heißt es jetzt aus Kiew. Mittlerweile hat die russische Armee die Stadt fast vollständig umzingelt.

Nur eine Sache werde die Auswirkungen der Schlacht für den Kriegsverlauf wirklich bestimmen, schreibt Phillips Payson O’Brien, Professor für Militärstrategie an der schottischen Universität St. Andrews: „Und das sind die relativen Verluste, die beide Seiten während der Bachmut-Kämpfe erlitten haben.“

Kiew will Stellung noch halten

Und solange diese Strategie funktioniere, werde die Ukraine wohl versuchen, ihre Positionen in der Stadt zu halten, so O’Brien. Ganz ähnlich hatte man es auch schon in den nur rund 50 Kilometer entfernten Zwillingsstädten Lyssytschansk und Sjewjerodonezk sowie im Vorort Soldedar praktiziert. Dementsprechend verkündete Kiew am Montag nach einer Lagebesprechung zwischen Präsident Wolodymyr Selenskyj, Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj und dem Chef der Landstreitkräfte, Olexandr Syrskyj, Bachmut zumindest vorerst weiter zu halten.

Wolodymyr Nasarenko, ein ukrainischer Kommandant in Bachmut, erklärte zuletzt auf Telegram, die Verteidigung halte, auch wenn die Lage kritisch sei. „Die Situation in Bachmut und Umgebung ist ziemlich die Hölle, wie auf der ganzen Ostfront.“

In seiner abendlichen Ansprache betonte Selenskyj Montagabend die Einigkeit der militärischen Führung um Bachmut. Es sei die einhellige Entscheidung getroffen worden, nicht zu weichen, sondern die Truppen zu verstärken.

Hinweise auf baldigen Rückzug

Dabei hatte es in den vergangenen Tagen so ausgesehen, als könnte der Rückzug unmittelbar bevorstehen: So hatten ukrainische Truppen eine Eisenbahnbrücke über den Bachmutka-Fluss im Nordosten von Bachmut zerstört, der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) sah das als Vorbereitung für einen Rückzug.

Grafik zum Kampf um Bachmut
Grafik: APA/ORF; Quelle: ISW/WarMapper

Derzeit ist die Stadt von drei Seiten umstellt, der Weg in den Westen ist aber noch frei – und die Experten des ISW gehen davon aus, dass es den russischen Truppen nicht schnell gelingen werde, die Stadt einzukesseln. Insofern sei ein langsamer Rückzug Richtung Westen zu erwarten. Russische Truppen müssten durch das Stadtgebiet vorrücken, auf solchen urbanen Kampfschauplätzen hätten Verteidiger immer die besseren Karten.

Schwieriger Abzug

Der australische Ex-General und Militäranalyst Mick Ryan widmete sich in einer Analyse ausführlich den Strategien für einen kontrollierten Rückzug und verweist darauf, wie schwierig es sei, Material und Menschen unter militärischem Druck in Sicherheit zu bringen. Es brauche jedenfalls Unterstützung von außen – auch um sicherzustellen, dass russische Truppen die abziehenden Ukrainer nicht verfolgen können. Das ISW verweist allerdings darauf, dass der Ukraine solche Manöver – unter anderem in Lyssytschansk und Sjewjerodonezk – schon gelungen seien.

Innerrussischer Streit spielt Ukraine in die Hände

Der Ukraine in die Hände spielt jedenfalls der mittlerweile offene Konflikt zwischen der Söldnertruppe Wagner und dem russischen Verteidigungsministerium. Bei den am Montag neuerlich aufgetauchten Berichten über eine angebliche Drohung von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, seine vor Bachmut kämpfende Einheit abzuziehen und damit einen Zusammenbruch der Front zu provozieren, handelt es sich wohl um eine neu verbreitete Äußerung von vor einigen Wochen.

Dass es weiter Streit gibt, bestätigte Prigoschin allerdings am Montag auf dem Telegram-Kanal seines Pressedienstes. Seinem Vertreter sei mit Montagfrüh der Zugang zum Stab der Heeresgruppe verwehrt worden, klagte er. Prigoschin fordert von der Armee versprochene Munitionslieferungen, auf die er offenbar seit Wochen wartet.

„Versagen“ und „Verschwendung“

Sollte sich die Ukraine aber tatsächlich zurückziehen, dann könnte Russland das als Erfolg verkaufen – sei aber eher geschwächt als gestärkt: Alleine, dass man dann Monate gebraucht habe, die Stadt einzunehmen, zeige die strategischen Schwächen auf, so O’Brien. „Man sollte meinen, dass die russische Armee, die Bachmut von drei Seiten umzingelt hat, in der Lage wäre, die Stadt zu diesem Zeitpunkt zu umzingeln. Sie kann jedoch nicht.“ Und die Tatsache, dass die Ukrainer immer noch darüber debattieren könnten, ob sie abziehen sollen, sei „ein Zeichen für das russische Versagen“.

Ukrainischer Soldat neben einem Granatwerfer
Reuters/Anna Kudriavtseva
Die Gefechte bei Bachmut toben schon seit Monaten

Auch wenn die Ukraine in dieser Schlacht eine Stadt verliere, hätten die Russen im Verlauf der Schlacht von Bachmut viel mehr verloren, schreibt auch Ryan: „Sie haben militärische Einheiten, Soldaten und Ressourcen verschwendet.“

Für Russland wird es nicht einfacher

Selbst russische Militärblogger gehen davon aus, dass sich die russischen Truppen nach einer Einnahme von Bachmut regruppieren müssten, bevor sie weitere Schritte setzen können. Laut ISW kommen dann eigentlich nur zwei weitere Ziele infrage: die Stadt Kostjantyniwka in westlicher Richtung oder das Gebiet Slowjansk/Kramatorsk im Nordwesten. Das Gebiet ist der größte Ballungsraum im Donbas, der noch unter Kontrolle Kiews steht.

Slowjansk ist auch das Zentrum der ukrainischen Verteidigungskräfte im Donbas. Ryan wie das ISW gehen davon aus, dass beide Ziele eine bei Weitem größere Herausforderung für Russland sind, als es Bachmut war – schließlich habe die Ukraine acht Jahre Zeit gehabt, sich auf einen militärischen Angriff vorzubereiten. Kramatarosk, so schreibt Ryan, liege wiederum auf einer leichten Anhöhe und sei deshalb schwerer anzugreifen. Selbst russische Militärblogger gehen davon aus, dass ein Angriff auf die Städte frühestens im Sommer oder Herbst möglich sei.

Rückschläge auch an anderen Fronten

Auch in anderen umkämpften Gebieten musste Russland zuletzt offenbar Rückschläge verkraften: Aus der 150 Kilometer südwestlich von Bachmut gelegenen Stadt Wuhledar wurden schwere Verluste für die russischen Truppen gemeldet. Es kursieren auch Gerüchte, hochrangige Offiziere von Russlands 155. Brigade würden sich nun weigern, Anordnungen von ungeschulten Befehlshabern zu befolgen, „nämlich gut verteidigte ukrainische Stellungen ohne jeglichen Schutz oder Vorbereitung zu stürmen“.

Zwar wurden die Spekulationen von ukrainischer Seite gestreut, laut ISW wollte sich aber Verteidigungsminister Sergej Schoigu bei einem Frontbesuch in der Ukraine über die Vorfälle informieren.

Und auch weiter nördlich in Luhansk kommen die russischen Truppen bei Bemühungen, jene Orte wiederzuerobern, die die Ukraine bei ihrer Gegenoffensive befreit hatte, nicht recht weiter. So gebe es zwar Kämpfe rund um die Städte Kreminna, Kupjansk und Sawtowe – aber keine nennenswerten Fortschritte.