Szene des Films „Everything Everywhere All At Once“
picturedesk.com/Everett Collection
Oscars 2023

Alles, überall und noch viel mehr

Die diesjährigen Oscars-Filme stehen im Zeichen der Grenzenlosigkeit: Exaltierte Genies, spektakuläre Parallelwelten und ein Übermaß an Alkohol und Drogen prägen die meisten Nominierten. Mit elf Chancen Favorit des Abends ist der Action-Fantasy-Mix „Everything Everywhere All at Once“, dessen spezielle Überforderungstaktik mehr über die Gegenwart aussagt als der Rest der Favoriten.

Eigentlich sollte schon im Vorjahr die Filmwirtschaft wieder im Alltag angekommen sein. Das spiegelte sich in der Planung der Oscar-Nacht wider, die in altem Glamour stattfand. Dann aber wurde wieder alles anders: Als bester Film wurde die Gehörlosen-Familienkomödie „Coda“ ausgezeichnet, für Streaming produziert und damit der erste Oscar-Sieger der Geschichte, der nicht einmal so tat, als sei er noch ein Kinofilm.

Was der Branche normalerweise einen Skandal wert gewesen wäre, wurde jedoch übertönt von dem viel plakativeren Eklat des ohrfeigenden Will Smith, dessen Echo immer noch nachhallt: Erst vor wenigen Wochen gab die Academy bekannt, dass es dieses Jahr ein Kriseninterventionsteam geben werde, das im Fall eines vergleichbaren Eklats schnell eingreifen soll.

Favoritin aus der Münzwäscherei

Das Vorjahr war also alles andere als eine übliche Oscars-Ausgabe. Im Gegensatz dazu soll heuer alles nach Plan laufen: Der Oscar-erfahrene Jimmy Kimmel wird erneut moderieren, und vier der fünf nominierten „Best Songs“ werden live aufgeführt, was oft zu den erinnerungswürdigsten Momenten der Nacht gehört. Ob das dann auch genug Publikum anzieht, werden die Einschaltquoten am Montag ergeben.

Viel spannender ist das, worum es eigentlich geht, nein, nicht die Kleider, sondern der Favoritenfilm des Abends: „Everything Everywhere All at Once“ von Daniel Kwan und Daniel Scheinert wurde bereits bei Dutzenden Preisverleihungen geehrt. Die Chancen stehen hoch, dass zumindest einige der elf Nominierungen auch zu einem Erfolg führen – und das bei einem Film, der so gar nicht ins Schema passt.

Schauspielerin Michelle Yeoh mit dem Film Independent Spirit Award
Reuters/Mario Anzuoni
„Everything, Everywhere …“-Hauptdarstellerin Michelle Yeoh bei den Independent Spirit Awards

Die Action-Fantasy-Komödie von Kwan und Scheinert handelt von Evelyn (gespielt von Michelle Yeoh), Chefin einer Münzwäscherei, die unversehens in ein Multiversum aus Parallelwelten katapultiert wird. Dabei ist ihr ganz normaler Alltag schon anstrengend genug: Sie muss ihren alten Vater versorgen und ihm schonend beibringen, dass seine Enkelin lesbisch ist.

Fegefeuer der Gleichzeitigkeiten

Zugleich soll sie für die Kundschaft der Wäscherei ein chinesisches Neujahrsfest ausrichten, sie muss das Chaos in der Wohnung bändigen, ein Beziehungsgespräch mit ihrem Ehemann führen und, am drängendsten: Sie muss die Steuerunterlagen des Betriebs zum Finanzamt bringen. Dass nun auch noch jemand aus einem Paralleluniversum anklopft und von ihr die Rettung der Welt verlangt, fügt sich ins allgemeine Chaos einfach ein.

Das Fegefeuer der Gleichzeitigkeiten, Mikromanagement von Haushalts- und Beziehungskrisen unter aktivem Ignorieren der Weltlage und ihrer Brüche und Cliffhanger, all das ist ein Drahtseilakt, in dem Fans des Films vielfach ihr eigenes Lebensgefühl wiederfinden. Kontext für Evelyns Kampf um ein intaktes Universum sind nicht Superschurken, sondern bröselnde Institutionen und unsichere Wahrheiten, eben genau jene Haltlosigkeit und ein Abgrundgefühl, das der Gegenwart nicht fremd ist.

Intersektionell die Welt retten

Der Reiz am Film ist nicht nur die totale audiovisuelle Überwältigung, sondern auch die seltsam beruhigende Erkenntnis, dass es tatsächlich mehr als eine Parallelwirklichkeit gibt: Evelyn lebt zugleich ein Dasein als amerikanische Unternehmerin und als Tochter ihres konservativen chinesischen Vaters. Sie ist Mutter einer lesbischen jungen Frau, muss den unverständlichen Anforderungen des Finanzamts gerecht werden, sie variiert alle paar Sätze zwischen Mandarin und Englisch, verwechselt Pronomen und findet das ziemlich egal.

Was daherkommt wie ein wilder Actionritt mit makellosen Martial-Arts-Stunts, pubertärem Humor und Lachtränen provozierenden Blödsinnigkeiten, ist also zugleich überzeichnete, deswegen aber nicht weniger wahrhaftige Darstellung einer kulturell intersektionalen Existenz, und nicht zuletzt eine Feier der Wandelbarkeit von Yeoh, Hongkong-Superstar und Hollywood-Ikone.

Österreichischer Star im Schützengraben

Die andere Überraschung der Preisverleihungen der Saison, die sich ebenfalls zu einem Favoriten gemausert hat, ist die deutsche „Im Westen nichts Neues“-Verfilmung (auf Netflix) von Erich Maria Remarques pazifistischem Roman aus dem Jahr 1928, in dem Remarque eigene Fronterfahrungen im Ersten Weltkrieg zu einem flammenden Antikriegsplädoyer verarbeitete, immer auf Augenhöhe mit den jungen Soldaten.

Szene des Films „Im Westen nichts Neues“
IMAGO/ZUMA Press/Netflix
Felix Kammerer (links) als junger Soldat an der Westfront

Der Erfolg des Films etwa bei den britischen BAFTAs ist möglicherweise auch auf die empfundene Aktualität des Stoffs durch den Ukraine-Krieg zurückzuführen. Edward Bergers Inszenierung fügt der drastisch-dreckigen Ebene der Frontsoldaten noch eine zweite narrative Ebene ein, auf der Männer in politischen und militärischen Führungspositionen teils unhistorisch, dafür umso plakativer agieren.

Hauptdarsteller ist der Wiener Burgtheater-Schauspieler Felix Kammerer in der Rolle des Soldaten Paul Bäumer. Kammerer ist zwar nicht nominiert, insgesamt kann sich das Team aber über neun Nominierungen freuen, die Chancen für einen deutschen Oscar-Gewinner stehen nicht schlecht.

Verprügelte Frauen und eine Dirigentin

Noch spannender sind aber andere Kandidaten, etwa Sarah Polleys Studie „Die Aussprache“ („Women Talking“) über eine Gruppe von Frauen aus einer mennonitischen Gemeinschaft, die über die Konsequenzen von erlittener Unterdrückung und sexueller Gewalt und durch einige der Männer aus der Gemeinde berät.

Programmhinweis

Der ORF berichtet live von der Verleihung der 95. Oscar-Verleihung. Die Oscar-Nacht startet um 23.45 Uhr in ORF1. Ab 1.00 Uhr wird die Zeremonie live übertragen. Montagabend bringt „kulturMontag“ einen Nachbericht zur Preisverleihung – mehr dazu in tv.ORF.at.

Auf ganz andere Weise reizvoll ist das drastische Porträt „Tar“ über eine fiktive Stardirigentin, die sich durch übergriffiges Verhalten und Machtmissbrauch selbst um ihre Karriere bringt. Bei diesem Film gilt es auch, einer österreichischen Beteiligten die Daumen zu drücken: Die Cutterin Monika Willi, bekannt vor allem durch ihre Zusammenarbeit mit Michael Haneke und Michael Glawogger, ist für den besten Schnitt nominiert.

Zu Lande, zu Wasser und in der Luft

Unendlich traurig und zugleich komisch ist dafür Martin McDonaghs irische Freundschaftsgeschichte „The Banshees of Inisherin“, mit ebenfalls neun Nominierungen der dritte Favorit des Abends. Fast wie eine Pflichtübung wirkt hingegen die „Best Picture“-Nominierung für James Camerons Unterwasserspektakel „Avatar – The Way of Water“.

Auch die Nominierung für Steven Spielbergs „Die Fabelmans“ ist fast schon Routine für den dreifachen Oscar-Preisträger. Hollywoods Vorliebe für Biopics schlägt sich wiederum in der Nominierung von Baz Luhrmanns kaleidoskopartiger „Elvis“-Biografie aus der Sicht seines zweifelhaften Managers (Tom Hanks) nieder.

Kehrtwende ins Kino zurück

Ein weiterer Ausreißer in Richtung Exzess ist Ruben Östlunds „Triangle of Sadness“, jene wenig subtile High-Society-Satire, die schon in Cannes und bei den Europäischen Filmpreisen umfassend gefeiert wurde.

Solides Spektakel auf der Höhe der Technik lieferte dafür Joseph Kosinskis Tom-Cruise-Vehikel „Top Gun: Maverick“, ein klares Bekenntnis zu echten Kinoleinwänden und vollem Körpereinsatz unter weitestgehender Vermeidung von Computeranimation, wie Cruise bei der Promotion für den Film nicht müde wurde zu betonen. Ein Preis für Kosinskis Film wäre ebenfalls ein spannendes Statement, für eine Rückkehr der guten alten Leinwandspektakel. Es wäre nicht das schlechteste.