Amritpal Singh
Reuters
Indien

Große Jagd auf flüchtigen Sikh-Anführer

Im indischen Bundesstaat Punjab wird seit Tagen nach dem Sikh-Prediger Amritpal Singh gefahndet, bisher ohne Spur. Was mit einer spektakulären Verfolgungsjagd begann, führte zu großflächigen Internetsperren in dem 27-Millionen-Einwohner-Staat. Beachtlich ist vor allem der rasante Aufstieg des erst 30-Jährigen, der für die Abspaltung eines Sikh-Staates ist – und damit einen jahrzehntealten Konflikt befeuert.

Auch am Dienstag wurde die Suche nach Singh fortgesetzt – bisher ergebnislos. Immer noch waren Teile des Punjab ohne Zugang zum Internet, wie die BBC schrieb. Es war der vierte Tag in Folge, an dem das Netz eingeschränkt war. Die indischen Behörden entsandten darüber hinaus Tausende Mann paramilitärischer Truppen, um Singh zu fassen.

Seit Samstag befindet sich der Staat im Ausnahmezustand: Singh entkam bei einer dramatischen Verfolgungsjagd mit dem Auto, die von einigen seiner Anhänger live übertragen wurde. Die Polizei des Punjab erklärte ihn daraufhin zum „Flüchtigen“ – und sucht seither vergebens nach ihm.

Anhänger stürmten Polizeistation

Es ist der bisherige Höhepunkt des Vorgehens gegen den separatistischen Sikh-Prediger und seine Anhänger, doch bereits seit Februar ist die Situation extrem angespannt: Damals stürmten Hunderte von Singhs Anhängern eine Polizeistation, in der ein Helfer Singhs festgehalten wurde – wegen mutmaßlicher Körperverletzung und versuchter Entführung.

Polizisten vor dem Wohngebäude von Amritpal Singh
APA/AFP/Narinder Nanu
Die Polizei, hier vor dem Anwesen Singhs, sucht seit Tagen nach dem verschwundenen Separatistenführer

Viele der jungen Männer seien mit Gewehren und Schwertern bewaffnet gewesen, schreibt die BBC. Sie ließen erst locker, nachdem ihnen versichert worden war, dass der Mann freigelassen werde. Polizeibeamte erklärten später, sie hätten die Menge nicht aufhalten können, da sie ein Exemplar des Guru Granth Sahib – des von den Sikhs verehrten heiligen Buches – als Schutzschild getragen hätten. Das führte letztlich zu der großangelegten Razzia am Wochenende gegen die von Singh geleitete Organisation Waris Punjab De (Erben des Punjab). Dutzende Menschen wurden seither festgenommen.

Singh kämpft für „Khalistan“

Sikhs sind in Indien eine religiöse Minderheit, machen aber den Großteil der Bevölkerung des Punjab aus, das an Pakistan grenzt: Rund 58 Prozent der Bevölkerung gehören der Religion an. Mit dem Goldenen Tempel in Amritsar, einer Millionenstadt im Punjab, befindet sich auch das spirituelle Zentrum des Sikhismus in dem Bundesstaat.

Singh, der in kürzester Zeit große Popularität aufbauen konnte, gilt als Verfechter „Khalistans“, der Idee eines separaten Sikh-Heimatlandes. Vor allem in den 1980er Jahren war die separatistische Bewegung im Punjab aktiv, deren Folge ein bewaffneter Konflikt zwischen indischer Regierung und Sikhs war.

Als Anführer der Separatisten galt der Prediger Jarnail Singh Bhindranwale, der sich 1984 im Goldenen Tempel mit Hunderten Anhängern verschanzte – und letztlich bei der umstrittenen „Operation Blue Star“ von der indischen Armee mitsamt seinen Anhängern, meist jungen Männern, getötet wurde. In der Folge wurde die damalige Premierministerin Indira Gandhi von ihren zwei Sikh-Leibwächtern ermordet – was wiederum zu Ausschreitungen führte. Letztlich kamen Tausende Sikhs ums Leben. In den 90ern verlor die Separatistenbewegung an Bedeutung.

Separatistenführer der 80er als „Inspiration“

Für Singh gilt Bhindrawale als „Inspiration“ – auch optisch erinnert der 30-Jährige an ihn. Singh vertritt dabei ähnliche Ansichten, wie die BBC schreibt. So sagt er etwa, der eigene Staat für die Sikhs sei die einzige „dauerhafte Lösung“ für die Probleme des Punjab, von Streit um Wasser über Drogensucht bis zum Untergang der punjabischen Kultur, so die BBC.

Amritpal Singh
APA/AFP/Narinder Nanu
Singh, hier beim Heiligtum der Sikhs, dem Goldenen Tempel, orientiert sich an dem Prediger Jarnail Singh Bhindranwale

Und: Singh wirke damit dem Nationalismus der Regierungspartei entgegen, so ein Politologe gegenüber der BBC. „Da die Anhänger der regierenden Bharatiya Janata Party nach einer Hindu-Nation rufen, haben einige Sikhs das Bedürfnis nach einem Führer, der über die Ungerechtigkeiten spricht, die ihnen angetan wurden, und der ihre Interessen und Probleme vertreten könnte“, so der Politologe.

Relativ wohlhabender Staat mit Problemen

Dabei gilt das Punjab als relativ wohlhabender Staat. Doch in letzter Zeit kämpfte der Staat mit anhaltender Arbeitslosigkeit. Auch eine Krise in der Landwirtschaft kratzt am Ansehen des Staates – Singh würde das zu seinen Gunsten nutzen, so Fachleute in der BBC. Auch soziale Netzwerke hätten beim Aufstieg Singhs eine wesentliche Rolle gespielt – weil er damit mehr Menschen erreichen könne.

Parminder Singh, der an der Guru-Nanak-Dev-Universität im Punjab unterrichtet, sagte der BBC, der Popularitätsschub sei auch auf die Frustration vieler junger Menschen zurückzuführen: „Es gibt eine Reihe junger Menschen im Punjab, die nicht wohlhabend und nicht besonders gebildet sind, keine Arbeit finden und nicht die Mittel haben, ins Ausland zu gehen. Viele von ihnen könnten sich zu dieser Art von religiösem Fundamentalismus hinbewegt haben.“

Regierungschef in Punjab sieht „alle in Harmonie“

Befürchtet wird, dass der Aufstieg Singhs eine Rückkehr zu bewaffneten Ausschreitungen wie in den 80er Jahren bedeuten könnte. Doch: „Nicht jeder in diesem Bundesstaat unterstützt Leute wie Amritpal Singh und ihre Forderung nach einer gewaltsamen Bewegung“, zitierte die BBC Parminder Singh.

Der Ministerpräsident von Punjab, Bhagwant Mann, sagte ebenfalls, dass in diesem Bundesstaat „alle in Harmonie leben“ und dass es trotz der Versuche, diese zu zerstören, ein „besonderes Band“ zwischen den Gemeinschaften gebe. „Tausend Menschen repräsentieren nicht das Punjab“, so Mann im Hinblick auf Singh und dessen Anhänger.

Seit der Razzia am Wochenende kam es unterdessen außerhalb Indiens zu Ausschreitungen. Singhs Anhänger verwüsteten etwa das indische Konsulat in San Francisco und forderten Singhs Freilassung. Auch in London kam es zu Protesten – ein Mann entfernte dabei die indische Flagge vom dortigen indischen Hochkommissariat.