Rendering zum Architekturprojekt „The Line“ in Saudi Arabien
NEOM
„The Line“ in Saudi-Arabien

Stararchitekten mischen bei Megaprojekt mit

Im Nordwesten Saudi-Arabiens entsteht derzeit ein ambitioniertes Wohnprojekt mitten in der Wüste: „The Line“, Herzstück der urbanen Zukunftsvision „Neom“, soll künftig als 170 Kilometer lange Bandstadt bis zu neun Millionen Menschen beherbergen, ohne Autos auskommen und zur Gänze aus erneuerbaren Energien gespeist werden. Dass das Projekt in dieser Form umsetzbar ist, bezweifeln Fachleute – was namhafte Architekten aber nicht davon abhält, bei dem „ökologischen Neo-Babylon“ in großer Zahl mitzumischen.

Das Vorhaben ist Teil der „Vision 2030“, die Saudi-Arabien modernisieren und vor allem unabhängiger von Erdöleinnahmen machen soll. Es biete eine Lösung für alle „Lebens- und Umweltkrisen, mit denen die Städte unserer Welt konfrontiert sind“, außerdem sei es ein „Sprungbrett für den menschlichen Fortschritt“, „Revolution des städtischen Lebens“ und ein „Projekt, das aus der Zukunft kommt“, heißt es auf der futuristisch anmutenden Website.

Der Initiator des Projekts, Prinz Mohammed bin Salman, hofft zudem auf einen Bevölkerungsboom, der Saudi-Arabiens Wirtschaft auch künftig erhalten kann. „Das ist der Hauptzweck des Baus von ‚Neom‘“, sagte er. „Die Kapazität Saudi-Arabiens zu erhöhen, mehr Bürger und mehr Menschen in Saudi-Arabien anzusiedeln. Und da wir das aus dem Nichts tun, warum sollten wir normale Städte kopieren?“

Grafik zur Planstadt Neom und The Line
Grafik: ORF/Sentinel Hub; Quelle: NEOM

Gesamt sind für „Neom“ 26.500 Quadratkilometer, also etwas weniger als die Fläche Belgiens, vorgesehen. 2029 sollen die Asiatischen Winterspiele in „Neom“ stattfinden, neben der Bandstadt sind Skianlagen, Hochgeschwindigkeitszüge, Technologieparks und Flughafen geplant. Allein für „The Line“ belaufen sich die geschätzten Baukosten auf bis zu 200 Milliarden Dollar (180 Mrd. Euro).

Visionen „zu schön, um wahr zu sein“

Selbst der naivste Fan von Malls und Hochhausstädten müsste bemerken, dass die Visionen zu schön seien, um wahr zu sein, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ („SZ“). Denn die „ökologische Musterstadt mit irrwitzigen Animationen und glücklichen Menschen aus allen Kulturkreisen der Welt“ sei alles andere als nachhaltig, 500 Meter hohe Wolkenkratzerscheiben ließen sich mit keiner bekannten Technologie klimaneutral errichten.

Warum „The Line“ als „langes, schmales Etwas“ und nicht als Kreisfläche konzipiert wurde, erschließt sich auch Peter Engert, Geschäftsführer der nachhaltigen Immobiliengesellschaft Österreich (ÖGNI), nicht. Denn einerseits seien Logistik, Energieverbrauch und Nachhaltigkeit dadurch schwieriger zu bewerkstelligen, auf der anderen Seite fehle „die Grätzel-Belebung“. „Nachhaltigkeit hat mehrere Säulen. Die versprochenen sozialen Aspekte werden so nicht abgebildet, das kann man ganz klar sagen“, so Engert.

Rendering zum Architekturprojekt „The Line“ in Saudi Arabien
APA/AFP/NEOM
„The Line“ soll ein nachhaltiges Vorzeigeprojekt werden

Der Energieverbrauch für die Beleuchtung, Klimatisierung und Infrastruktur könne durch Photovoltaik nur geleistet werden, wenn dafür eine Fläche von der Größe der Slowakei mit Solarmodulen bebaut werde, so eine Berechnung der Uni Heidelberg. Ähnliche Maßnahmen seien nötig, um die Wasserversorgung zu ermöglichen. Der „Gifteintrag“, der durch das Projekt in die Atmosphäre gelangt, wird laut Philip Oldfield, Architekturprofessor in Sydney, auf mindestens 1,8 Milliarden Tonnen CO2 geschätzt.

Beteiligung renommierter Architekten

In Anbetracht der Nachhaltigkeitsbedenken und Menschenrechtsverletzungen wegen der Vertreibung indigener Stämme scheint es umso überraschender, wie viele namhafte Architektinnen und Architekten aus Europa und den USA an dem Megaprojekt beteiligt sind. Die Agentur, die „Neom“ betreut, gibt sich Medien gegenüber zwar bedeckt. Durch Recherchen und eine Projektausstellung lasse sich jedoch erahnen, wer „seinen Namen an die saudische Diktatur verkaufen würde“, so die „SZ“.

So sei etwa Massimiliano Fuksas, der unter anderem den Vienna Twin Tower plante, in das Projekt involviert – obwohl er zuvor gegenüber der Onlineplattform Themayor.eu erklärt hatte, Stadtentwicklung müsse „wirklich dringend“ nachhaltiger werden – man sei hier „völlig im Verzug“.

Rendering zum Architekturprojekt „The Line“ in Saudi Arabien
NEOM
„The Line“ soll sich über 170 Kilometer erstrecken

Auch das Londoner Büro der ehemaligen Stararchitektin Zaha Hadid ist den Recherchen zufolge involviert. Als „federführend“ für den Entwurf nennt die Onlineplattform Dezeen das US-amerikanische Architekturbüro Morphosis, das eine Stellungnahme jedoch ablehne. Weniger überraschen dürfte die österreichische Beteiligung von Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au, der dazu steht, dass er „lieber für Autokraten“ baue, weil die „nicht jeden Cent umdrehen“.

Rückzüge und „interne Diskussionen“

Prinzipiell biete ein derartiges Projekt für Architektinnen und Architekten die Chance, in einer isolierten „Laborsituation“ neue und durchaus wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen – etwa wie man Wasserversorgung in der Wüste ermöglicht, so Engert. Darum gehe es bei „The Line“ aber nicht. „Hier geht es um ein Prestigeprojekt, da sehe ich keine Vorteile, keinen Mehrwert für die Gesellschaft. Vielleicht weiß man noch zu wenig, aber so, wie es jetzt geplant ist, ist es wertlos für die Menschheit.“

Rendering zum Architekturprojekt „The Line“ in Saudi Arabien
Beide: APA/AFP/NEOM
Die Nachhaltigkeitsversprechen bei „The Line“ stehen zunehmend in der Kritik

Manche Architekturbüros haben sich – wohl auch aus Sorge vor negativer PR – von dem Projekt zurückgezogen. Der britische Architekt Norman Foster, der unter anderem die Reichstagskuppel in Berlin entwarf, verließ 2018 nach dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi (Dschamal Chaschukdschi) das Beratergremium, plant seit 2019 allerdings den Red Sea Airport für die Region.

Die niederländische Architektin Francine Houbens Rotterdamer habe sich nach eigener Aussage von dem Projekt zurückgezogen und beschäftige sich nur noch mit dem Umbau von Gebäuden in Riad, so die „SZ“. Bei UN Studio führe man derzeit interne Diskussionen über mögliche Folgen der Beteiligung. Man wolle sich vorerst aber nicht in „polarisierte Debatten in den Medien verwickeln“ lassen, die sich auf „eine bestimmte Situation“ bezögen.

Umsetzung der Pläne fraglich

Satellitenbilder zeigen zwar bereits deutliche Spuren vorbereitender Erdarbeiten. Die Debatten über die Beteiligung der renommierten Architekturbüros könnten aber auch ein natürliches Ende finden – denn Fachleute sind nach wie vor unsicher, ob die ambitionierten Pläne tatsächlich umgesetzt werden können. Die Vision sei so extravagant, dass selbst diejenigen, die an „The Line“ mitarbeiten, noch nicht wüssten, ob die Pläne jemals realisiert werden könnten, schreibt etwa der „Guardian“.

Satellitenbild mit Bauarbeiten zu The Line
Sentinel Hub
Auf Satellitenbildern sind bereits die ersten Bauarbeiten sichtbar

Eine der wichtigsten Fragen, nämlich wer genau die neun Millionen Einwohner von „The Line“ werden sollen, sei zudem nach wie vor offen, schreibt „The Conversation“. Hier stellt sich auch die Frage, welche Gesellschaftsform das sonst konservative Saudi-Arabien bei „Neom“ umsetzen möchte. Ökologische Versprechen allein werden nicht ausreichen, um potenzielle Bewohner anzusprechen, so ÖGNI-Geschäftsführer Engert. „Wir bauen Häuser für Menschen. Wenn sie sich nicht wohlfühlen, sind sie wertlos.“