Rotlichtviertel in Amsterdam
IMAGO/Yadid Levy
Sex, Gras und Alkohol

Amsterdam tüftelt an neuem Image

Mit seinem liberalen Ruf zieht Amsterdam unzählige Reisende an – doch das soll sich ändern. Geplagt von den Kehrseiten des Massentourismus, will sich die Stadt einen Neuanstrich verpassen. Die Regeln für Gras, Alkohol und Sexarbeit werden strenger. Begleitet wird das von einer Kampagne gegen partywütige Touristinnen und Touristen. Die Bevölkerung reagiert mit Erleichterung – und Protest. Eine Reportage aus dem Rotlichtviertel De Wallen.

„Keine früheren Schließzeiten“ oder „Rettet nicht uns, rettet unsere Fenster“ ist auf Schildern des Amsterdamer Informationszentrums für Prostitution (PIC) bei einem Besuch Ende März zu lesen. Erst tags zuvor zogen Hunderte Sexarbeiterinnen durch die Straßen. Sie protestierten gegen härtere Vorschriften, die ihnen schon bald bevorstehen.

Konkret soll ab Mitte Mai die Sperrstunde von Sexarbeiterinnen von sechs auf drei Uhr in der Früh vorverlegt werden. Das sei katastrophal, erklärt eine Mitarbeiterin des Informationszentrums im Gespräch mit ORF.at. Der Grund? In jenen Stunden würden die Sexarbeiterinnen das meiste Geschäft machen. Und es ist nicht die einzige Maßnahme der Stadtregierung, die in der Szene für Entsetzen sorgt.

Schaufenster im Rotlichtviertel in Amsterdam
ORF/Katja Lehner
„Keine frühere Sperrstunde“: Die neuen Regeln der Stadtverwaltung sorgen für Entsetzen bei den Amsterdamer Sexarbeiterinnen

Entsetzen über geplantes Erotikzentrum

Um den „Druck auf das Rotlichtviertel“ zu reduzieren, kündigte Bürgermeisterin Femke Halsema von der Partei GroenLinks (deutsch: GrünLinks) konkretere Pläne für den Bau eines Erotikzentrums an. Dieses soll Platz für 100 Sexarbeiterinnen, die derzeit hinter den rot beleuchteten Fenstern tätig sind, bieten. „Die Lebensqualität der Bewohner steht seit Jahren unter dem Druck der Touristenströme, für die die Fenster nur eine Attraktion sind“, so Halsema.

Prostitution

ist in den Niederlanden seit über zwei Jahrzehnten legal und hoch besteuert. Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter müssen Einkommenssteuer bezahlen und sich bei der Handelskammer registrieren.

Wo das Erotikzentrum angesiedelt sein wird, steht noch nicht fest. Zum Missfallen der EU-Arzneimittelbehörde EMA befinden sich zwei der drei möglichen Standorte aber in direkter Nähe der EU-Agentur. Während EMA um die Sicherheit ihrer 900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fürchtet und Protest ankündigt, warnen Sexarbeiterinnen vor gefährlicheren Arbeitsbedingungen. Sie kritisieren zudem die Stigmatisierung ihrer Tätigkeit.

Rückdeckung bekommen sie vom frisch gewählten Nachtbürgermeister Freek Wallagh, der als Vermittler und Ansprechperson für Gastronomen, Kulturschaffende, Anwohnerinnen sowie Politik fungiert. Geht es nach ihm, dann sollte Sexarbeit als „lebendes, atmendes Kulturerbe“ angesehen werden. Boten Frauen doch bereits kurz nach Entstehung des Stadtteils De Wallen im 13. Jahrhundert ihre Dienste an. Der liberale Umgang mit Sex und Cannabis sei auch Teil dessen, was Amsterdam zu jener liberalen Oase gemacht habe, die sie heute ist, so Wallagh zu ORF.at.

In Boden eingelassenes Kunstwerk zeigt Hand an Brust
ORF/Katja Lehner
Sexarbeit ist Teil der jahrhundertelangen Geschichte Amsterdams – das hinterlässt auch Spuren auf den Straßen der Altstadt

Kiffverbot auf den Straßen

Tatsächlich sind die neuen Regeln für Sexarbeiterinnen nur ein Teil des Maßnahmenpakets, mit dem Halsema die Lebensqualität in der Innenstadt wieder verbessern möchte. Kiffend durch die Gassen der Amsterdamer Innenstadt zu ziehen soll künftig nicht mehr erlaubt sein. Ebenso sollen Gaststätten an Wochenenden früher schließen und ab ein Uhr Früh keine neuen Gäste mehr zulassen.

Schon jetzt ist der Verkauf von Alkohol in Geschäften, Spirituosenläden und Cafes an Wochenenden ab 16 Uhr verboten. Die Stadt könnte aber noch weiter gehen: Die Behörden prüfen nämlich, ob der Verkauf von Haschisch und Marihuana in den Coffeeshops zwischen 16.00 und 1.00 Uhr eingeschränkt werden kann. Eine anderer Vorstoß Halsemas, laut dem Touristinnen und Touristen aus den Coffeeshops der Stadt verbannt werden sollten, war im Herbst gescheitert.

Coffeeshop in Amsterdam
ORF/Katja Lehner
Coffeeshops – eine beliebte niederländische Attraktion – könnten künftig ebenso eingeschränkt werden

Bewohner: Leben wie „im Disneyland“

Die neuen Regeln zielen darauf ab, Anrainerinnen und Anrainer wie Edwin Schölvinck zu entlasten. Schölvinck lebt seit 30 Jahren im Rotlichtviertel. Die Touristenmassen würden – mit Ausnahme der letzten drei Jahre – seither zunehmend zur Herausforderung. „Manchmal komme ich mir so vor, als ob ich im Disneyland leben würde“, sagt er. Häufig komme es in der Gegend zu Junggesellenabschieden. Saufende, grölende und kiffende Menschen sind die Folge.

Amsterdamer wollen Touristenflut begrenzen

Der Tourismus macht Amsterdam zu schaffen. Die Stadt leidet unter dem Image, nicht mehr als Drogen, Sex und Alkohol bieten zu können. Vielen Bewohnern wird es mittlerweile zu bunt. Man will partywütige Touristen nun daran erinnern, dass hier auch echte Menschen leben.

Schölvinck versucht deshalb Bewusstsein bei Touristinnen und Touristen zu schaffen. Konkret engagiert er sich bei der „We Live Here“-Kampagne, die Anrainer auf Vorschlag der Stadt vor einigen Jahren ins Leben gerufen hatten. Als Teil jener Kampagne sind im gesamten Viertel Poster von Anrainern zu sehen. Die simple Botschaft lautet „We live here“ – also „wir leben hier“.

Anrainer im Rotlichtviertel
ORF/Katja Lehner
„Manchmal komme ich mir so vor, als ob ich im Disneyland leben würde“, sagt Edwin Schölvinck, Bewohner des Rotlichtviertels

Die neuen Vorschriften heißt er im Gespräch mit ORF.at „willkommen, solange sie das Leben besser machen“. Schölvinck stellt zugleich aber die Sinnhaftigkeit des Cannabisverbots auf den Straßen infrage. Während Cannabis die Menschen beruhige, seien diese durch den Konsum von Alkohol aggressiver und lauter, meint er.

Touristen steht Schölvinck auch nicht grundsätzlich mit Abneigung gegenüber. „Die Zahlen sind das Problem“, hält er fest. Allein 2023 werden über 18 Mio. Besucherinnen und Besucher erwartet. Im Vorpandemiejahr 2019 waren es 22 Mio. Menschen. Dabei zählt Amsterdam gerade einmal 900.000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Wie Amsterdam gegen Partytouristen vorgeht

Um dem Massentourismus mit all seinen Kehrseiten Herr zu werden, setzt die Stadt neben Vorschriften auf einen bunten Strauß an Kampagnen. „We Live Here“ ist eine davon, die Kampagne „How To Amsterdam“ – der Fokus liegt dabei auf Benimmregeln – eine weitere. In den Schatten wurden jene Initiativen jüngst von der „Stay Away“-Kampagne, die junge Sauf- und Drogentouristen aus Großbritannien mit Videos und Informationsseiten aus der Stadt abschrecken will, gestellt.

Weder Schölvinck noch Wallagh oder Coffeeshop-Besitzer Joachim Helms können mit der Abschreckungskampagne viel anfangen. „Amsterdam war schon immer eine tolerante und liberale Stadt“, sagt Helms. Es sei „widersprüchlich“, erst jahrelang Touristen in die Stadt zu locken und nun eine Kampagne zu starten, um die Menschen fernzuhalten. Außerdem würde sich nur ein sehr kleiner Teil der Menschen, die nach Amsterdam reisen, daneben benehmen, sagt er.

Coffeeshop in Amsterdam
ORF/Katja Lehner
„Widersprüchlich“: Coffeeshop-Besitzer Joachim Helms kritisiert „Stay Away“-Kampagne für britische Partytouristen

Nachtbürgermeister: „Wir müssen aufpassen“

Kampagnen wie „Stay Away“ seien kontraproduktiv, meint auch Nachtbürgermeister Wallagh. Diese würden betonen, dass Amsterdam eine Stadt „für Drogen und Alkohol“ sei. „Wir sind so viel mehr als das. Wir sind eine Stadt der Kunst. Wir sind eine Stadt der Kultur, es gibt so viel Schönes zu erleben“, so der Nachtbürgermeister.

Wenngleich „prüde und reaktionäre Ansichten“ in der Stadt an Bedeutung gewinnen würden, so hätten nach Ansicht Wallaghs in Amsterdam alle ein Interesse daran, den Tourismus einzudämmen. Mit Blick auf den liberalen Lebensstil der Stadt und seiner Bewohnerinnen und Bewohner mahnt er aber zu Vorsicht: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht etwas zerstören, das wir über Jahrhunderte aufgebaut haben – und zugleich sicherstellen, dass Amsterdam nicht zu einem komischen Mix aus Venedig und Disneyland wird.“