Ärzte gehen auf Gang
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Experten fordern Reformen

Warnung vor „Crash“ im Gesundheitswesen

Im österreichischen Gesundheitswesen droht ohne Reformen im Detail und im Großen ein „Crash“. Diese Warnung äußerten am Mittwoch Expertinnen und Experten und ergänzten: Ausbau der Versorgung und Neustrukturierung von Patientenverteilung, Leistungen und Finanzierung müssen jetzt schnell und in Kombination angegangen werden.

Die demografische Entwicklung mit dem Altwerden der Babyboomer und zuletzt die Coronavirus-Pandemie haben offenbar zu einer starken Verschärfung von Engpässen, Personalproblemen und strukturellen Schwierigkeiten geführt, hieß es bei der Vorstellung des Jahrbuchs der Praevenire-Gesundheitsinitiative in Wien weiter.

Ein Beispiel sind Kinder- und Jugendgesundheit, und hier speziell die psychiatrische Versorgung, sagte der Leiter der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Paul Plener. „Im Vergleich zu vor der Pandemie haben wir im vergangenen Jahr dreimal so viele Patienten nach Suizidversuchen zu versorgen gehabt“, so Plener.

Das Gesundheitswesen, so der Experte, müsse umfassend reagieren. Es brauche den Ausbau der ambulanten psychiatrischen Versorgung, mehr von Krankenkassen bezahlte Psychotherapieangebote für Kinder und Jugendliche und schließlich eine Verdoppelung der Zahl der stationären Betten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, um in Österreich auf einen „europäischen Standard“ zu kommen.

Medizinerflaute: Kein Ende in Sicht

Der Ärztemangel nimmt besorgniserregende Ausmaße an – bereits jetzt fehlen 2.000 Mediziner und Medizinerinnen jährlich, und mit der bevorstehenden Pensionierungswelle der Babyboomer-Generation steht das Schlimmste noch bevor. Der „Report“ besuchte einen Allgemeinmediziner, der mit 70 Jahren noch die Stellung in der Praxis hält, bis ein Nachfolger gefunden ist.

Ruf nach Staatssekretariat für Kindergesundheit

Markus Wieser, Präsident der niederösterreichischen Arbeiterkammer (AK), verwies auf die Bedeutung der Rehabilitation im Bereich Kinder- und Jugendgesundheit. Hier habe es Fortschritte gegeben. Doch jetzt müsse man Eltern und Angehörigen von Kindern und Jugendlichen in diesen Einrichtungen durch bezahlte Freistellungen die Möglichkeit geben, diese auch in der Rehabilitation zu begleiten.

Wieser forderte die Einrichtung eines „Staatssekretariats für Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsministerium“ und eine „Kinder- und Jugendgesundheits-Milliarde“ an Budgetmitteln. Schließlich müsse man für die Angehörigen von kranken Kindern und Jugendlichen mit hohem Betreuungsaufwand auch den Begriff von „Sekundärpatienten“ als Folge der Belastungen schaffen und ihnen helfen.

„Betonwände zwischen den Sektoren“

Wesentlich, so die Experten, sei auch eine Neustrukturierung in der Patientenversorgung vom niedergelassenen bis zum stationären Bereich. Karl Lehner, Geschäftsführer der OÖ Gesundheitsholding: „Die Spitäler sind die Spitze der Pyramide des Gesundheitswesens. Wir müssen wesentlich mehr dafür sorgen, dass wir die Sektorengrenzen im Gesundheitswesen überschreiten. Wir haben Betonwände zwischen den Sektoren.“

Man könnte sich zum Beispiel viele Kosten und Ineffizienzen ersparen, wenn Spitalsambulanzen und niedergelassene Medizin aus einem Topf finanziert, geplant und gesteuert würden.

„Vom Bettendenken zum Funktionsdenken“

Drastisch formulierte den Reformbedarf Wilhelm Marhold, ehemals Chef der städtischen Wiener Spitäler: „Es vergeht kein Tag, an dem nicht Mängel im österreichischen Spitalswesen in den Medien aufscheinen. Es macht keinen Sinn, mit dem ‚Flammenwerfer‘ herumzugehen und einmal die Ärzteschaft, einmal die Krankenkassen anzugreifen. (…) Wenn wir so weitermachen wie bisher, fährt das System an die Wand.“

Für Marhold muss es dringend zu einer „Ambulantisierung“ eines großen Teils der tagesklinisch durchführbaren medizinischen Leistungen kommen. Der Fortschritt von Medizin und Technologie sei dringend in den Strukturen der Krankenhäuser abzubilden. Das erlaube auch ein Arbeitsumfeld, das den aktuellen Erwartungen von Ärzteschaft und Pflegekräften entspreche. „Wir müssen vom Bettendenken ins Funktionsdenken kommen“, forderte der Experte.

Verweis auf Arzneimittelengpässe

Die aktuellen Schwierigkeiten in der Arzneimittelversorgung schilderte Erwin Rebhandl, langjähriger Hausarzt in Oberösterreich und Gründer eines Primärversorgungszentrums: „Gerade in den vergangenen zwei, drei Wochen haben wir viele Streptokokken-Infektionen gehabt.“

Breitband-Antibiotika (Amoxicillin/Clavulansäure) seien nur noch via magistrale Zubereitung in den Apotheken zur Verfügung gestanden. Das eigentlich optimal passende Antibiotikum, Penicillin V, habe es nicht mehr gegeben.

Die Linzer Krankenhausapothekerin und Praevenire-Vorstandsmitglied Gunda Gittler forderte in diesem Zusammenhang gesetzlich verpflichtende Lagerhaltung: „Wir haben im intramuralen Bereich (Krankenhäuser; Anm.) gesetzlich verpflichtend Lager für 14 Tage zu halten. Unsere Vorlieferanten haben keine gesetzliche Verpflichtung.“

Deutlich gestiegene Ausgaben

Alexander Biach, Ex-Chef des damaligen Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger und nunmehr Direktor-Stellvertreter der Wirtschaftskammer Wien, verwies auf die unterschiedliche Kostenentwicklung in den einzelnen Sektoren des Gesundheitswesens.

So seien die Ausgaben für die öffentlichen und die Ordensspitäler von 2012 bis 2021 um 41 Prozent gestiegen, die Aufwendungen für die Spitalsambulanzen aber um 105 Prozent, die Honorarkosten für die niedergelassenen Ärzte im Vergleich dazu um 48 Prozent.

Es sollte also sinnvoll sein, Ambulanzen und niedergelassenen Bereich gemeinsam zu finanzieren und zu planen, um ein Herumschieben von Patientinnen und Patienten bzw. von Leistungen wegen der unterschiedlichen Kostenträger (Spitäler: primär Bundesländer; niedergelassener Bereich: primär Krankenkassen) in Zukunft zu verhindern.

Etliche Forderungen an Politik

Zu der im Jahrbuch der Praevenire-Initiative für 2022/2023 enthaltenen Forderungen an die Politik gehört schließlich auch eine durchgehende Digitalisierung des Gesundheitswesens. Dazu kommt der Ruf nach einer verstärkten Vorsorge und Früherkennung, Neuordnung der Berufsrechte der Gesundheitsberufe, Konzentrierung von medizinischen Leistungen im Rahmen der Spezialisierung und Ausbau der Disease-Management-Programme, also strukturierter Behandlung, für chronisch Kranke.

SOS-Kinderdorf schlägt Alarm

Auch SOS-Kinderdorf warnte am Mittwoch in einer Aussendung „vor den drastischen Auswirkungen einer eklatanten Mangelversorgung in der Kinder- und Jugendmedizin“ und rief zu raschem Handeln auf.

„Wir haben es aktuell mit einer dramatischen Lage zu tun, in der es viel zu wenige Kassenplätze gibt und die vorhandenen oft lange Zeit unbesetzt bleiben. Vor allem bei der psychosozialen Versorgung spitzt sich die Situation besonders zu“, erläuterte SOS-Kinderdorf-Geschäftsführer Christian Moser. Es brauche dringend mehr Aufmerksamkeit, Innovation und budgetäre Mittel von allen Seiten.