Kellner druckt Rechnung aus
ORF.at/Christian Öser
Zahl steigt

Jede vierte Überstunde ist unbezahlt

Die Arbeiterkammer (AK) hat sich die Zahl der Überstunden im vergangenen Jahr angesehen und ist alarmiert: Laut ihrer Analyse wurden 47 Millionen Mehr- und Überstunden weder mit Geld noch mit Zeitausgleich abgegolten. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien so um mehr als eine Milliarde Euro umgefallen. Dann dürfe man sich nicht über den Personalmangel in vielen Branchen wundern, heißt es aus der AK. Die Wirtschaft kontert, die Vorwürfe seien „nicht nachvollziehbar“.

Die Zahlen stammen aus einer Studie der Statistik Austria für die AK. Sie zeigen auch, dass die Zahl der unbezahlten Über- und Mehrstunden im Lauf der Zeit gestiegen ist. In Summe seien den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im vorigen Jahr 1,2 Milliarden Euro entgangen. Das, so Sozialbereichsleiterin Ines Stilling von der AK, sei „systematischer Lohnbetrug“. Besonders viele Mehr- und Überstunden würden im Gastro- und Gesundheitsbereich anfallen.

Und wieder sind Frauen stärker betroffen als ihre männlichen Kollegen. Männern seien 23 Prozent nicht abgegolten worden. Bei Frauen, die mehr Teilzeit arbeiten, seien es 28 Prozent. Die Kammer stellte einige Forderungen auf: Der Mehrarbeitszuschlag für Teilzeitbeschäftigte müsse ab der ersten Stunde zustehen, der Zeitausgleichszeitraum von drei Monaten solle abgeschafft werden. Zudem müsse der Zuschlag auf 50 Prozent angehoben werden, so die AK. Wird Mehr- oder Überstundenentgelt vorenthalten, solle es Sanktionen geben.

Verfallen solle das Entgelt erst, wenn es kein aufrechtes Arbeitsverhältnis mehr gebe. Die AK sprach sich auch für ein Verbot von All-in-Verträgen aus sowie für einen „Überstundeneuro“, den die Unternehmen zweckgebunden pro geleisteter Überstunde zahlen sollen. Den Beschäftigten rät die AK, selbst genaue Arbeitszeitaufzeichnungen zu führen. Diese müssten nicht vom Arbeitgeber abgezeichnet werden.

AK: 47 Millionen Überstunden nicht ausbezahlt

Im letzten Jahr sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern insgesamt 1,2 Milliarden Euro entgangen. Eine Auswertung der Statistik Austria zeigt, dass Betriebe mehr als 47 Millionen Mehr- und Überstunden nicht mit Geld oder Zeitausgleich abgegolten haben.

Hoher Arbeitsdruck und Inflation

Stilling bemängelte am Freitag Klagen über Arbeitskräftemangel und gleichzeitiges „Teilzeitbashing“. Dazu komme hoher Arbeitsdruck, der die Gesundheit der Menschen belaste. Der Druck in Zeiten hoher Inflation sei zudem enorm, viele wollten Konflikte mit dem Arbeitgeber vermeiden. Daher würden schon viele Überstunden gar nicht gemeldet werden. „Wenn sowohl die Arbeitsbedingungen unzumutbar sind als auch das Entgelt nicht passt, braucht sich niemand zu wundern, wenn die Menschen ihre Arbeitszeit verringern wollen“, so Stilling.

Wirtschaftskammer: Darstellung nicht richtig

Die Wirtschaftskammer (WKO) konterte die Vorwürfe am Freitag per Aussendung: Diese seien „nicht nachvollziehbar“. Gerade wegen des herrschenden Arbeitskräftemangels „handeln die Unternehmen verantwortungsvoll, was den Umgang von Dienstzeiten mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betrifft“. Zudem wisse man aus Umfragen, dass Beschäftigte Überstunden „aktiv nachfragen und die Steuerbefreiung von Überstunden als geeignetes Mittel gegen den Arbeitskräftemangel ansehen“, so Julia Moreno-Hasenöhrl von der WKO.

Die Aussage, Mehrarbeit werde gefordert, aber nicht abgegolten, sei nicht richtig, so die Kammer, die eine höhere Steuerbefreiung von Überstunden forderte. Statt zehn im Monat sollen es nach dem Willen der Wirtschaftskammer 20 werden.

Oftmals liege die Entlohnung durch die Unternehmen in Österreich über dem kollektivvertraglichen Mindestlohn. Über All-in-Verträge und Überstundenpauschalen würden gewisse Mehr- oder Überstunden abgegolten – auch wenn keine Mehrarbeit anfalle, so Moreno-Hasenöhrl, die eine „Negativkampagne“ ortete.

Gerade die All-in-Verträge aber seien problematisch, so Martin Gruber-Risak, Professor am Institut für Arbeits- und Sozialrecht an der Uni Wien. Diese seien ursprünglich ein Konzept gewesen für leitende Angestellte mit flexiblerer Zeiteinteilung. Später seien diese Verträge „nach unten getröpfelt“, so Gruber-Risak im Ö1-Mittagsjournal. Am Ende des Jahres müsse man überprüfen, ob die Differenz zwischen kollektivvertraglichem Mindestlohn und tatsächlicher erbrachter Arbeit auch abgegolten wurde. Gruber-Risak sprach sich für eine verpflichtende Deckungsprüfung aus.

Bezüglich unbezahlter Überstunden sei es schwierig, sich zu wehren, wenn das Dienstverhältsnis noch aufrecht ist, so der Experte. 90 Prozent der Verfahren vor den Arbeits- und Sozialgerichten seien beendete Arbeitsverhältnisse. Arbeitnehmer können sich aber in einem aufrechten Arbeitsverhältnis bereits vorab gegen Überstunden zur Wehr setzen. „Da kommt es besonders darauf an, dass man in dem Unternehmen eine Kultur etabliert, dass es verpönt und nicht in Ordnung ist, dass man außerhalb der vereinbarten Dienstzeiten Dienste verlangt“, so Gruber-Risak. In Zeiten von Homeoffice und mobiler Kommunikationskanäle sei das in der Praxis aber sehr schwierig.

Gruber-Risak sprach sich für ein Recht auf Nichterreichbarkeit aus. Ein solches Grundrecht hatte Anfang 2021 das EU-Parlament gefordert. Es gehe vor allem darum, die Ruhezeiten für Arbeitnehmer zu sichern.