Eine Person nimmt Medikamente aus einer Lade in einer Apotheke
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Engpässe bis „Superbugs“

Hohe Erwartungen an EU-Pharmareform

Die EU-Kommission soll am Mittwoch nach langem Warten ihren Entwurf für eine neue Arzneimittelgesetzgebung vorstellen. Erwartet werden nicht nur neue Regeln für Schutzrechte von Medikamenten, sondern auch Maßnahmen gegen Engpässe und Anreize zur Entwicklung von Antibiotika. Es dürfte die weitreichendste Reform seit zwei Jahrzehnten sein. Die Skepsis im Vorfeld der Präsentation war indes groß.

Die Reform, die auf Druck der Pharmaindustrie mehrmals verschoben wurde, soll die drängendsten Probleme des europäischen Arzneimittelsektors lösen – vom Rückgang der Pharmaproduktion bis zu Medikamentenengpässen. Bei Letzterem handle es sich um „ein Marktversagen, das sich in den letzten 20 Jahren aufgebaut hat“, kritisierte Sylvia Maurer vom Europäischen Verbraucherverband (BEUC) gegenüber ORF.at.

Mit der aktuellen Gesetzgebung, die in den frühen 2000er Jahren beschlossen wurde, gebe es zwar Prozeduren, die wirksame und sichere Medikamente auf dem EU-Binnenmarkt verfügbar machen – es gebe aber keinerlei Regeln, die sicherstellen, dass „Medikamente bezahlbar sind, dass es keine Lieferkettenprobleme gibt und dass Medikamente überall in der EU verfügbar sind“, so Maurer. Die Reform könne Abhilfe schaffen, sagte sie.

Doch über das Wie herrschen bei Patientengruppen und Pharmalobby im Vorfeld der Präsentation Differenzen. In Brüssel will man den Spagat schaffen: Eine Sprecherin der EU-Kommission gab gegenüber ORF.at an, dass beide Seiten von den Vorschlägen profitieren sollen. „Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Erschwinglichkeit sind zentrale Anliegen“, sagte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides in einem parlamentarischen Unterausschuss.

Vorschau: Reform der EU-Pharma-Gesetze

Die EU-Kommission will die Pharma-Gesetze überarbeiten, um die Medikamentenversorgung zu verbessern. ORF-Korrespondentin Raffaela Schaidreiter berichtet aus Brüssel.

Pharmaindustrie fürchtet um Forschungsstandort

Um die Verfügbarkeit von Arzneimitteln in Europa zu verbessern, könnte die Kommission Berichten zufolge eine Änderung der Schutzrechte für neue Medikamente einführen. Im Raum steht etwa, die Schutzrechte von Arzneimitteln von derzeit zehn Jahren abzuschwächen – sodass billige Nachahmermedikamente (Generika) früher zugelassen werden könnten.

Die Kommission könnte den Pharmaunternehmen zugleich die Möglichkeit einräumen, den Schutz für ein Produkt für einen gewissen Zeitraum zurückzugewinnen, wenn es gleichzeitig in allen 27 Mitgliedsstaaten auf den Markt gebracht wird. Damit könnten Pharmafirmen auch zu Deals mit weniger lukrativen EU-Staaten bewogen werden. Es dürfe in der EU keine Patienten „erster und zweiter Klasse“ geben, meinte Kyriakides.

EU-Kommissarin für Gesundheit Stella Kyriakides
APA/AFP/Michal Cizek
EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides will keine Patienten „erster und zweiter Klasse“

Kluft bei Verfügbarkeit von Medikamenten

Derzeit ist es nämlich so, dass es bei der Verfügbarkeit neuer Arzneimittel in der EU große Unterschiede gibt. Kleine Staaten und solche mit einer schwächeren Wirtschaftskraft sind schlechter gestellt als große, kaufkräftige Nationen. Einer Schätzung des europäischen Pharmaverbands EFPIA zufolge müssen Patienten in Deutschland rund 133 Tage auf neue Medikamente warten – in Rumänien sind es 899 Tage.

Während der Europäische Verbraucherverband eine Schwächung der Schutzrechte begrüßen würde, schlagen Pharmakonzerne Alarm. Europa würde als Forschungsstandort dadurch noch weiter ins Hintertreffen geraten und die Forschung an Behandlungsmöglichkeiten für seltene Krankheiten zusätzlich gefährdet. EFPIA-Generaldirektorin Nathalie Moll zufolge seien die Investitionen in Forschung und Entwicklung in Europa in den letzten 20 Jahren ohnehin um 25 Prozent gesunken.

Ähnliche Befürchtungen äußerte die deutsche Regierung, wie die „Financial Times“ mit Verweis auf ein Positionspapier berichtete. Österreich tritt gemeinsam mit Estland, Ungarn, den Niederlanden, Polen und der Slowakei hingegen dafür ein, Anreize an die Erfüllung ungedeckter medizinischer Bedürfnisse zu knüpfen. Das geht aus einem Schreiben an die EU-Kommission hervor. Die Kommission will indes eine engere Zusammenarbeit der EU-Staaten bei Regeln für Preisfindung, Bezahlung und Beschaffung von Arzneien anregen.

Frühwarnsystem und Vorräte gegen Engpässe?

Geht es nach Kyriakides, so sind in der Reform auch mehrere Maßnahmen zur Bekämpfung von Medikamentenengpässen vorgesehen. „Wir müssen auf den kommenden Herbst und Winter besser vorbereitet sein“, sagte sie zuletzt. In dem parlamentarischen Unterausschuss gab sie vergangene Woche an, dass Hersteller künftig Präventionspläne erstellen sollen und bei drohenden Versorgungsproblemen früher Alarm schlagen müssen. Sie kündigte auch eine EU-Liste für kritische Arzneimittel an.

Die EU-Arzneimittelbehörde (EMA) und die EU-Behörde für Krisenvorsorge (HERA) seien bei der Koordinierung und Bewältigung von Engpässen zentral, hieß es weiter. In der Kommission gab es diesbezüglich auch Überlegungen, Antibiotika über HERA zu bevorraten. „Wir müssen aber sehr vorsichtig sein, um keine weiteren Engpässe zu schaffen“, hieß es. In Österreich sind derzeit (Stand: Dienstagvormittag) 600 Arzneimittel nicht oder nur eingeschränkt lieferbar.

Nach Einschätzung der Pharmaunternehmen ist es schwierig, mögliche Versorgungsprobleme Monate im Voraus vorherzusagen. Sie fordern daher, dass eine EU-weite Datenbank über den Arzneimittelverbrauch eingerichtet wird, um Nachfragespitzen besser vorhersagen zu können. Kyriakides sagte bereits bei einer Rede im März, Daten und Digitalisierung besser nutzen zu wollen. Erwogen wird Reuters zufolge auch, die EMA zur Erteilung von Zwangslizenzen zu ermächtigen, wodurch der Marktschutz für einige Arzneimittel bei einem Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit aufgehoben würde.

Gutscheine könnten Antibiotikaentwicklung ankurbeln

Stichwort Antibiotika: Um die Innovation und Entwicklung neuer Arzneimittel anzukurbeln, gibt es nicht nur die Idee, Zulassungsverfahren zu beschleunigen – im Falle von Antibiotika setzt die Kommission auch auf Anreize der anderen Art: Gutscheine. Bei der Entwicklung neuer Antibiotika gab es seit Jahrzehnten keinen Durchbruch. Fachleute warnen, dass das Problem der arzneimittelresistenten „Superbugs“ zunimmt. Allein in der EU sterben nach Schätzungen der EU-Gesundheitsbehörde ECDC jährlich mehr als 35.000 Menschen aufgrund von Antibiotikaresistenzen.

Bei den Gutscheinen geht es Insidern zufolge darum, dass eine Firma, die ein Antibiotikum entwickelt, einen Gutschein erhält, mit dem diese Firma etwa Schutzrechte anderer Medikamente um ein Jahr verlängern oder den Gutschein an den Meistbietenden auf dem Markt verkaufen kann. Firmen würden die Verlängerung der Schutzrechte nur für „Blockbuster-Medikamente“ benutzen, die von vielen Patienten benutzt werden und damit große Profite erzielen, meinte Maurer.

Die Verbraucherschützerin hält derartige Gutscheine deshalb für „den völlig falschen Weg“. „Es ist gar keine Frage, dass wir ganz dringend neue Antibiotika brauchen, aber dieses Instrument behindert den Wettbewerb in der EU, spielt bestimmte Patientengruppen gegeneinander aus und ist sehr teuer für die Krankenkassen“, sagte sie. Der Markt für Generika könnte so gebremst werden, so die Befürchtung.

Mitarbeiterin in einer Apotheke
Reuters/Lukas Barth
Mit dem Entwurf der Pharmareform will die EU die Entwicklung neuer Antibiotika ankurbeln

Mehr Transparenz und gestraffte EMA

Kolportiert wurde noch eine Reihe weiterer Maßnahmen: Reuters berichtete mit Verweis auf einen Entwurf der Reform Anfang April etwa, dass Hersteller bei einem Zulassungsantrag verpflichtet werden könnten, die Kosten für Forschung und Entwicklung sowie die öffentlichen Mittel, die sie für ein neues Medikament erhalten haben, offenzulegen. Verbrauchergruppen unterstützen das. Sie werfen Pharmafirmen vor, ihre Kosten zu übertreiben, um hohe Arzneimittelpreise zu rechtfertigen.

Mehrere Vorschläge betreffen auch die EMA selbst. So soll die Behörde gestrafft, die Zahl der wissenschaftlichen Ausschüsse verringert und die Zeit, die die Behörde für die Prüfung neuer Arzneimittel benötigt, gekürzt werden. Ziel ist es, innovative Behandlungen schneller zu testen, was Unternehmen mit neuartigen Medikamenten den Weg auf den Markt erleichtern könnte.

Die Industrie hofft nicht zuletzt, dass Beipackzettel für Medikamente durch digitale ersetzt werden, um die Produktionskosten zu senken. Verbraucherschützer befürchten, dass Patienten dadurch nur unzureichende Informationen über verschreibungspflichtige Arzneien erhalten könnten. Bis die Änderungen in Kraft treten, wird es jedenfalls noch dauern. Nachdem die EU-Kommission den Entwurf veröffentlicht, werden das Europäische Parlament, die Kommission und die Mitgliedsstaaten die letzten Details ausarbeiten.