Ein ukrainischer Soldat mit Artilleriegranate
APA/AFP/Anatolii Stepanov
Unstimmigkeiten in Moskau?

Neue Indizien für ukrainische Offensive

Eine ukrainische Offensive gegen die russischen Truppen im Land gilt als eine Frage der Zeit. Zuletzt hieß es, es mehrten sich nach dem Ende des Winters die Anzeichen, dass es bald so weit sein könnte. Auf russischer Seite sollen inzwischen ernste Zweifel am Sinn verlustreicher Angriffe auf ukrainische Stellungen bestehen. Allerdings, heißt es, wolle der Kreml nichts von einem Wechsel in die Defensive wissen.

Kiew gilt als fest entschlossen, alle aktuell von russischen Verbänden gehaltenen Regionen zu befreien oder es zumindest nicht unversucht zu lassen. Mehrfach hieß es zum möglichen Zeitpunkt, die ukrainische Armee warte noch Lieferungen vor allem schwerer Waffen aus dem Ausland bzw. die Ausbildung ihrer Soldaten an westlichem Gerät ab. Auch das Wetter bzw. die Bodenbeschaffenheit für den Einsatz schwerer Kampfpanzer wurden immer wieder als Faktoren genannt.

Vor zwei Tagen hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von der Aufstellung neuer Militäreinheiten berichtet. „Wir bereiten auch aktiv neue Brigaden und Einheiten vor, die sich an der Front bewähren werden“, sagte er am Freitag. „Wir alle in der Ukraine müssen verstehen, dass die Hauptaufgabe des Staates die Befreiung unserer Gebiete, das Zurückholen unserer Erde und unserer Menschen aus russischer Gefangenschaft ist.“

Auffällige Truppenbewegungen

Außerdem berichtete zuletzt das US-Magazin „Newsweek“ wiederum unter Berufung auf russische Medienberichte, dass die ukrainische Gegenoffensive nur noch eine „Frage der Zeit“ sei und in Kürze beginnen werde, und nannte mögliche Details dazu. Ukrainische Truppen würden erst nicht im Süden angreifen, sondern aus Nordosten in Richtung der Großstadt Luhansk.

Zerstörtes Gebäude in Cherson
IMAGO/ZUMA Wire/Aziz Karimov
Um die Stadt Cherson sollen die ukrainischen Truppen Erfolge erzielen

Am Montag berichtete der US-Thinktank Institute for the Study of War (ISW) von auffälligen Truppenbewegungen. Ukrainische Verbände befänden sich am bis zuletzt von russischen Truppen kontrollierten linken Ufer des Flusses Dnipro in der Region Cherson. Außerdem soll es bereits solide ukrainische Nachschublinien geben. Die russischen Verbände hatten bzw. haben inzwischen Zeit, ihre Positionen zu verstärken.

Phillips P. O’Brien, Professor für strategische Studien an der schottischen Universität St. Andrews, äußerte via Twitter Zweifel an einem baldigen Beginn einer ukrainischen Offensive. Die ukrainische Armee habe keinen Grund, sich in eine solche zu stürzen, solange die russische Armee bereit sei, ihre Kräfte für die Angriffe etwa auf Bachmut zu „verschwenden“. „All das gibt der Ukraine Zeit, sich besser vorzubereiten und Reserven aufzubauen.“

Möglicher Weg Richtung Krim

Das ISW, das laufend Einschätzungen zur aktuellen Lage veröffentlicht, berief sich in dem Bericht unter anderem auf Informationen aus Russland und die Auswertung von Geodaten – einige Unsicherheitsfaktoren inklusive.

Ausmaß und Ziel der offensichtlichen Gegenangriffe seien unklar. Russland dementierte mögliche ukrainische Gebietsgewinne. Vom Gebiet Cherson aus wäre bei einer Eroberung der Region der Weg für die ukrainische Armee zu der von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim frei.

Kreml-Linie stößt offenbar auf Widerspruch

Am Sonntag hatte wiederum „Newsweek“ unter Berufung auf das US-Institut mit Sitz in Washington über zunehmenden Druck auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin, seine Strategie in der Ukraine zu überdenken, berichtet. Anstatt verlustreiche Angriffe ohne merkliche Gebietsgewinne durchzuführen, sollte die russische Armee in die Defensive gehen, Positionen halten und für die erwartete ukrainische Großoffensive Kräfte sammeln.

Ein ukrainischer Soldat vor einem zerstörten Wohnhaus in Bachmut
APA/AFP/Anatolii Stepanov
Bachmut ist nach wochenlangen und für beide Seiten verlustreichen Kämpfen eine Ruinenstadt

Allerdings würden diese Vorschläge von Militärs im Kreml offenbar kein Gehör finden. „Dass weiter auf russischen Offensiven im Osten der Ukraine bestanden wird, lässt darauf schließen, dass die Gruppe, die den Krieg entlang der aktuellen Front einfrieren will, Putin nicht vollends von ihrer Sichtweise überzeugt hat“, hieß es in der Analyse.

Wagner-Chef Prigoschin denkt laut nach

Die ISW-Experten vermuten, dass sich das Verteidigungsministerium in Moskau zuletzt auch deshalb immer wieder offen mit dem Chef der russischen Privatarmee Wagner arrangierte, um über ihn zu Putin vorzudringen. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin gilt als enger Vertrauter des Kreml-Chefs – und als Mann offener Worte.

Prigoschin hatte Mitte April mit einem Text vor allem in der Ukraine für Aufsehen gesorgt, in dem er über ein mögliches Ende des Krieges räsonierte. „Für die Staatsmacht und für die Gesellschaft ist es heute notwendig, irgendeinen dicken Punkt hinter die militärische Spezialoperation zu setzen“, wurde der Chef der berüchtigten Söldnertruppe zitiert. Auch nach mehr als einem Jahr bezeichnen Russlands kremltreue Kreise den Krieg in der Regel noch immer nur als „militärische Spezialoperation“.

Ziele „in gewisser Hinsicht“ erreicht

„Die ideale Variante wäre, das Ende der militärischen Spezialoperation zu verkünden und zu erklären, dass Russland alle seine geplanten Ziele erreicht hat – und in gewisser Hinsicht haben wir sie ja auch wirklich erreicht“, schrieb Prigoschin. „Für Russland besteht immer das Risiko, dass sich die Situation an der Front nach dem Beginn der (ukrainischen) Gegenoffensive verschlechtern kann.“

Die einzige Möglichkeit sei es derzeit, sich in den besetzten Gebieten „festzubeißen“, so der Kopf der Wagner-Gruppe. Das würde allerdings einen Rückzug von den eigentlichen Kriegszielen des Kreml bedeuten. Diese sehen unter anderem die vollständige Eroberung der vier ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson vor, die Russland im vergangenen Jahr annektiert hat.

Unklare Andeutungen

Am Ende ging aus dem Text allerdings nicht klar hervor, was Prigoschin wirklich will. Er sprach sich gegen jegliche Art von Verhandlungen aus, die eine Rückgabe der von Russland besetzten Gebiete an die Ukraine vorsehen würden. Stattdessen müssten die Kämpfe weitergehen, Prigoschin drohte der ukrainischen Armee noch: „Wir sehen uns in Bachmut.“ Bei den Kämpfen um die Stadt sind vor allem seine Söldner im Einsatz.

Später ließ Prigoschin über seinen Pressedienst erste Medienberichte kommentieren, die seine angebliche Forderung nach einem Kriegsende thematisierten. Die Hauptaussage seines Artikels sei gewesen, dass es einen „ehrlichen Kampf“ geben müsse, stellte er klar – was immer das heißen mag. Prigoschins Aussagen wurden ihm jedenfalls als Zweifel am Erfolg der aktuellen Strategie ausgelegt.

Ukraine hat enorm aufgerüstet

Laut dem jährlichen Bericht zu den weltweiten Rüstungsausgaben des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), veröffentlicht erst am Montag, hat die Ukraine ihre Militärausgaben im letzten Jahr auf 44 Mrd. Dollar (knapp 40 Mrd. Euro) erhöht – internationale Unterstützung nicht eingerechnet. Das war eine Steigerung von 640 Prozent gegenüber dem Jahr zuvor.

Im internationalen Ranking sprang das Land von Platz 36 auf Rang elf vor. Mit dem Krieg in der Ukraine (und dem Konflikt um Taiwan) stiegen die Rüstungsausgaben überhaupt weltweit auf ein Allzeithoch von rund zwei Billionen Euro.

Kiew verlangt inzwischen eine Verzehnfachung der westlichen Militärhilfe. „Wir sind unseren Verbündeten dankbar für ihre militärische Hilfe. Aber das ist nicht genug“, schrieb Vizeaußenminister Andrij Melnyk, lange Botschafter in Deutschland, am Wochenende auf Twitter. Bisher hätten alle Verbündeten der Ukraine etwa 50 Mrd. Euro bereitgestellt. Es brauche aber das Zehnfache.

Lawrow verteidigt vor UNO Krieg

Russlands Außenminister Sergej Lawrow warf dem Westen am Montag hegemoniale Pläne vor und verteidigte den russischen Einmarsch in die Ukraine. Die „Ukraine-Frage“ könnte nicht losgelöst von der geopolitischen Entwicklung betrachtet werden, bei der die NATO die Sicherheit Russlands in der Region über Jahre bedroht hatte, sagte Lawrow im UNO-Sicherheitsrat in New York. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres prangerte hingegen die „Verwüstung“ der Ukraine durch Russland an.

„Es geht darum, wie die internationalen Beziehungen künftig gestaltet werden: Indem ein solider Konsens auf der Grundlage von Interessenabwägungen hergestellt wird, oder indem die Vormachtstellung Washingtons aggressiv und sprunghaft vorangetrieben wird“, erklärte Lawrow in der Sitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.