Mauer und Stacheldraht
APA/Hans Klaus Techt
Maßnahmenvollzug

Sorge über Dutzende Entlassungen im Herbst

Ab September werden Dutzende junge Erwachsene und Jugendliche entlassen, die bisher in forensisch-therapeutischen Zentren, den ehemaligen Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher, untergebracht waren. Das wird wegen der Reform des Maßnahmenvollzugs schlagend. Für diese Menschen sind weder Auflagen noch Nachversorgung vorgesehen, was Fachleute kritisieren: Sie befürchten, dass damit die Versorgung von „Risikopersonen“ nicht gesichert sei. Das Justizministerium beruhigt.

Mit der Reform des Maßnahmenvollzugs, auf den sich die Regierungsparteien einigen konnten, habe man den Umgang mit psychisch kranken Rechtsbrechern „endlich ins 21. Jahrhundert geholt“, sagte Justizministerin Alma Zadic (Grüne) Ende 2022. Die Hürden für eine potenziell lebenslange Einweisung in ein forensisch-therapeutisches Zentrum wurden damit deutlich erhöht.

Wie das Ö1-Morgenjournal am Mittwoch berichtete, müssen in naher Zukunft dadurch Dutzende zwangsweise Untergebrachte entlassen werden, weil die Kriterien für ihre Anhaltung weggefallen sind. Bisher war dafür eine mit mehr als einjähriger Haft bedrohte Anlasstat erforderlich, nunmehr braucht es in der Regel ein mit mehr als drei Jahren Haft bedrohtes Delikt, um zurechnungsunfähige, aber gefährliche Rechtsbrecher gegen ihren Willen im Maßnahmenvollzug unterbringen zu können.

Bei infolge einer psychischen Erkrankung nicht schuldfähigen jugendlichen Straftätern ist eine Einweisung überhaupt nur noch bei einem Kapitalverbrechen mit einer Strafdrohung ab zehn Jahren möglich. Das gilt nicht nur für zukünftige Fälle, sondern auch für Personen, die derzeit angehalten sind und zum Zeitpunkt ihrer Einweisung das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, also nicht erwachsen waren.

„Von einem auf den anderen Tag auf die Straße gesetzt“

„Ich sehe da große Probleme auf uns zukommen“, zitierte Ö1 in diesem Zusammenhang die Wiener Strafrechtsprofessorin Katharina Beclin. „Personen, die bisher in einem geschlossenen System waren, wo ihnen komplett alles abgenommen wurde, werden von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt“, so Beclin. Damit sei nicht gewährleistet, dass die zum Zeitpunkt ihrer Einweisung Gefährlichen und bei ihrer Entlassung womöglich nicht Geheilten oder Krankheitsuneinsichtigen ihre Medikamente nehmen.

Ab Herbst, wenn die Regelung für Jugendliche und junge Erwachsene in Kraft tritt, können an die Entlassung wegen minder- bis mittelschwerer Delikte wie Körperverletzung oder Raub ohne Waffengewalt auch keine Bedingungen mehr geknüpft werden. Das heißt also, dass es keine Weisungen geben könne, eine Therapie fortzusetzen oder sich in ambulante Behandlung zu begeben.

„Bei allen ist jetzt Feuer am Dach“, hieß es am Mittwoch seitens eines Sachverständigen, der immer wieder im Maßnahmenvollzug Untergebrachte begutachtet. Die Justiz bemühe sich aber, die bevorstehenden Entlassungen insofern „aufzufangen“, als die Betroffenen nicht komplett sich selbst überlassen werden, so der Experte gegenüber der APA.

Soziologin kritisiert Reform

Auch die Soziologin Veronika Hofinger von der Uni Innsbruck ist der Meinung, dass die Reform des Maßnahmenvollzugs nicht zu Ende gedacht worden sei: „Bisher konnte man aus der Maßnahme nur bedingt entlassen werden, hatte einen Wohnplatz, Bewährungshilfe, Auflagen, musste seine Medikamente nehmen, und hier geht das völlig verloren, weil hier keine Möglichkeit mehr besteht, sie anzuweisen“, sagte sie im Ö1-Mittagsjournal.

Justizbeamte im Eingangsbereich einer Justizanstalt
APA/Hans Klaus Techt
Die Reform des Maßnahmenvollzugs wird nun von Fachleuten kritisiert

In Vorarlberg hat es gerade erst ein Vernetzungstreffen mit Vertretern und Vertreterinnen von Nachsorgeorganisationen und des Gesundheitswesens gegeben. Dabei sagte die Präsidentin des Landesgerichts Feldkirch, Angela Prechtl-Marte: „Es gibt schlicht zu wenig Platz und Geld für psychisch kranke Menschen.“ Die Folge sei, die Menschen würden in anderen Bundesländern untergebracht. Damit seien sie aber von ihren Familien und ihrem sozialen Netz abgeschnitten.

Justizministerium spricht von rund 50 Personen

Laut Justizministerium steht mit Stichtag 1. September österreichweit die Entlassung von neun und in weiterer Folge von rund 50 derzeit im Maßnahmenvollzug befindlichen Personen an, die zum Zeitpunkt ihrer Einweisung Jugendliche oder junge Erwachsene waren und die teilweise 15 Jahre oder mehr untergebracht waren. Jeder einzelne Fall werde vor dem Entlassungstermin einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt, wurde versichert.

„Um eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung der Betroffenen auch nach ihrer Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug zu gewährleisten, ist das Ministerium im laufenden Kontakt mit den entsprechenden Gesundheits- und Sozialeinrichtungen, Bundesländern, Anwältinnen und Anwälten sowie den Familien der Betroffenen“, hieß es in einer der APA übermittelten Stellungnahme.

Darüber hinaus würden zahlreiche weitere vorbereitende Maßnahmen getroffen: „So etwa individuelle Sozialtrainings und Bewährungshilfe, begleitete Ausgänge und Sozialnetzkonferenzen mit allen beteiligten Einrichtungen.“ Das Ministerium stelle auch finanzielle Mittel für Betroffene zur Verfügung, die nach ihrer Entlassung eine weitere Betreuung etwa in einer therapeutischen Wohngemeinschaft benötigen: „Sollte dennoch von den Betroffenen nach ihrer Entlassung eine Selbst- oder Fremdgefährdung ausgehen, ist eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik nach dem Unterbringungsgesetz möglich.“

SPÖ kritisiert Ministerium

SPÖ-Justizsprecherin Selma Yildirim forderte Justizministerin Zadic auf, den Übergang vom Maßnahmenvollzug in die Freiheit für Angehaltene ordentlich vorzubereiten: „Schon beim Beschluss durch die Bundesregierung haben wir davor gewarnt, beim Maßnahmenvollzug nur den halben Weg zu gehen. Die Justizministerin hat aber anscheinend genau das vor. Das birgt ein enormes Sicherheitsrisiko für die Menschen, die zuvor jahrelang in einer dichten und strukturierten Betreuung waren. Mit einer parlamentarischen Anfrage werde ich überprüfen, ob solche Konzepte überhaupt existieren.“

Yildirim verlangte Verhandlungen mit den Ländern, in deren Kompetenz die Gesundheitsversorgung liegt, um eine sinnvolle betreute Entlassung zu ermöglichen. Eine „planlose Auflösung“ provoziere ein Sicherheitsrisiko für die Entlassenen und die Bevölkerung und setze die Akzeptanz für die Reform des Maßnahmenvollzugs aufs Spiel.

Hacker fordert Gespräche mit Bund

Im Ö1-Mittagsjournal sagte Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker (SPÖ), dass man grundsätzlich kein Problem habe, dass der Maßnahmenvollzug weiterentwickelt werde. Es gebe jedoch „null Vorbereitung“ dafür, so Hacker weiter. Er verwies auf den Druck, unter dem die Psychiatrie in Österreich jetzt schon stehe, ganz besonders die Kinderpsychiatrie. Er forderte Gespräche mit dem Bund, um erforderliche Maßnahmen zu erörtern – die Verantwortung liege nicht allein bei den Ländern, das sei auch Thema des Bundes, so Hacker.

Die Volksanwaltschaft will „genau beobachten“, in welcher Form die entlassenen Personen weiterbetreut werden, kündigte Volksanwalt Bernhard Achitz (SPÖ) bei einer Pressekonferenz anlässlich der Präsentation des Jahresberichts der Volksanwaltschaft am Mittwoch an. Bei den Nachsorgeeinrichtungen gebe es bereits einen großen Personalmangel, gab auch Volksanwältin Gaby Schwarz (ÖVP) zu bedenken.