Türkischer Präsident Erdogan und seine Verbündete
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Türkei-Wahl

Erdogans riskanter Deal mit Kleinparteien

Am Sonntag finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan trat wie sein Gegner Kemal Kilicdaroglu mit zahlreichen Verbündeten in den Wahlkampf. In seiner „Volksallianz“ hat er sich gleich mit mehreren Kleinparteien verbündet, die allesamt mit antifeministischem Programm antreten und das Ein-Mann-System beibehalten wollen. Das sorgt für Kritik, nicht nur von außen.

Nach den Verfassungsänderungen im Jahr 2018 finden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen heuer gleichzeitig statt. Laut Umfragen läuft momentan alles auf ein Duell zwischen Amtsinhaber Erdogan von der neo-osmanischen und rechtspopulistischen AKP und Kilicdaroglu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP hinaus. Sollte im ersten Wahlgang keiner der insgesamt vier Kandidaten die absolute Mehrheit haben, kommt es kurz darauf zur Stichwahl des Präsidenten.

Derzeit deutet alles auf einen zweiten Wahlgang hin. Die Parlamentswahlen könnten unterdessen zeigen, in welche Richtung der Trend für die Stichwahl geht. Klar ist, dass die rund 15 bis 20 Millionen Einwohner der Türkei mit kurdischen Wurzeln eine entscheidende Rolle für das Ergebnis spielen werden, berichten türkischen Medien.

Prokurdische HDP unterstützt Kilicdaroglu

In den vier größten kurdisch dominierten Provinzen der Türkei führt laut den letzten Umfragen von Rawest Research Kilicdaroglu. Er geht als der gemeinsame Präsidentschaftskandidat der „Allianz der Nation“ in die Wahl, jenes Bündnisses aus sechs Parteien, das Erdogan zuletzt in Umfragen stark unter Druck setzte.

Abgeordnete der türkischen Grünen-Partei
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Einige HDP-Abgeordnete schlossen sich den Grünen an

Die linke prokurdische HDP, die bisher drittstärkste Kraft im Parlament war und LGBTQ-, Frauen- und Menschenrechte unterstützt, ist zwar nicht Teil des Bündnisses, unterstützt aber Kilicdaroglu. Erdogan drohte der Partei mit der Schließung, da er sie als versteckten Arm der verbotenen Arbeiterpartei PKK sieht. Stattdessen treten die HDP-Kandidaten bei den Grünen, der linken demokratischen Yesil-Sol-Partei (YSP) an. Auch der inhaftierte Präsident der HDP, Selahattin Demirtas, hat über Twitter Kilicdaroglu mehrmals seine Unterstützung zugesagt.

Erdogan-Unterstützung zieht Kritik nach sich

Doch auch Erdogan kann nicht auf die Stimmen der kurdischen Wähler und Wählerinnen verzichten. Er verbündete sich zuletzt mit der kurdisch-islamistischen Kleinpartei Hüda Par. Das sorgte nicht nur außerhalb, sondern auch in Erdogans Lager selbst für Aufregung. Wie die dpa im April schrieb, protestierte etwa Özlem Zengin, Vizefraktionsvorsitzende der AKP, gegen das Bündnis – erfolglos.

Denn die 2012 gegründete Hüda Par gilt als Vertreterin der Ideologie der kurdisch-islamistischen Miliz Hizbullah, die 2000 zerschlagen wurde. Die türkische Hizbullah kämpfte in den 90er Jahren gegen die linksgerichtete kurdische Bewegung, griff kritische Journalisten an und verübte Anschläge gegen einen Polizeichef und Polizisten.

Anführer der Huda Par Partei mit Demonstranten
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Der Vorsitzende von Hüda Par, Zekeriya Yapicioglu

Mitglieder der Hüda Par bekommen durch die Unterstützung einen AKP-Listenplatz, mit dem sie ins Parlament einziehen könnten. Schon 2018 kündigte die Partei an, dass sie Erdogan unterstützen wolle. Wie die „Frankfurter Rundschau“ zuletzt schrieb, sind seit Anfang 2019 insgesamt 58 verurteilte Hizbullah-Terroristen freigelassen worden, denen 183 Morde zur Last gelegt wurden.

Viele Unterschiede, eine Gemeinsamkeit

Neben den Differenzen bei der Ausrichtung, die an dem Wahlbündnis rütteln, verbindet die Parteien auch ein gemeinsames Anliegen: Die MHP, die seit 2018 der parlamentarische Arm der rechtsextremen Grauen Wölfe ist, trägt ihre homo- und transfeindliche Gesinnung offen zur Schau und findet damit Anklang in ultrakonservativen Wählerkreisen.

LGBT-Protest in Istanbul
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Immer wieder kam es zu Protesten von Frauen und queeren Personen

Auch die anderen Verbündeten, wie etwa die stimmenschwache und religiöse Partei der Großen Einheit (BBP) und die islamistische Partei Yeniden Refah (YRP), gehen mit extrem konservativen Forderungen wie der Kriminalisierung von Ehebrüchen und dem Verbot von LGBTQ-Vereinen vor. Die YRP wirbt etwa mit einem Bus, auf dem die Kandidaten für die Parlamentswahl abgebildet sind. Allerdings nur die männlichen Kandidaten, die einzige weibliche Kandidatin war nur als Schatten abgebildet.

Sorge um Frauen und LGBTQ-Rechte nimmt zu

Mit seinem neuesten Verbündeten löste Erdogan Unruhe landesweit aus. Die Hüda Par setzt sich für die „traditionelle“ Familie und gegen „abweichende“ Ideologien ein, was Frauen und queeren Menschen in der Türkei Sorgen bereitet, schreibt die dpa-Türkei-Korrespondentin Anne Pollmann. Mädchen und Buben sollen nach Ansicht der Partei getrennt unterrichtet und Frauen nur die Arbeit ausführen, die ihrer „Natur“ entsprechen, lautet es im Hüda-Par-Wahlprogramm. Auch Gewaltschutzgesetze zum Schutz für Frauen sollen abgeschafft werden.

Der ehemalige HDP-Vorsitzende Demirtas kommentierte das Bündnis zwischen Erdogan und Hüda Par als „Taliban-Bündnis“. „Wenn sie gewinnen, könnte es für Frauen die letzte Wahl werden“, twitterte der inhaftierte Präsident. Frauen und queere Menschen fürchten, dass sich ihre Situation mit einer Wiederwahl Erdogans somit erneut verschlechtern könnte, manche fürchten gar, dass sich ein ähnliches System wie im Iran etablieren könnte, so Pollmann.

Frauen, egal ob religiös oder nicht religiös, könnten damit eine entscheidende Rolle in der bevorstehenden Wahl spielen. In einem knappen Rennen könnten letztlich die Stimmen für kleinere Parteien den Ausschlag geben: Wie der Türkei-Experte Kemal Bozay für die Rosa-Luxemburg-Stiftung schreibt, könnte etwa der YSP, für die viele prokurdische HDP-Politiker kandidieren, eine „Schlüsselposition bei den Wahlen“ zukommen. Ihre Wähler – und Wählerinnen – würden damit „zur ‚Königsmacherin‘“.

Europarat entsendet Beobachtungsmission

Die europäische parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) kündigte eine Wahlbeobachtungsmission an. Unter der Leitung des deutschen SPD-Abgeordneten Frank Schwabe werden 33 Mitglieder in die Türkei entsandt.