Der Kreml in Moskau
AP
„Anschlagsversuch“?

Viele Fragen nach Kreml-Vorwürfen

Russland wirft der Ukraine einen Drohnenanschlag auf Kreml-Chef Wladimir Putin vor, Kiew weist die Vorwürfe zurück und wirft Moskau im Gegenzug vor, sich die Anschuldigungen ausgedacht zu haben. Ob wirklich Drohnen auf den Kreml zugeflogen sind, ist genauso unklar wie das mögliche Motiv und der Urheber eines derartigen Angriffs. Fachleute halten mehrere Varianten für möglich. Der Westen reagierte am Mittwoch abwartend.

In der Nacht auf Mittwoch sollen „zwei Drohnen, die den Kreml im Visier hatten“, abgefangen worden sein, so die Vorwürfe aus Moskau. Überprüfen lassen sich diese nicht. Ein Video, das in sozialen Netzwerken kursiert, zeigt Rauch über einem der Gebäude des Kreml-Geländes, ein anderes soll den Moment der Explosion über dem Kreml zeigen.

Der Angriff werde als „geplanter Terroranschlag und Mordversuch gegen den Präsidenten der Russischen Föderation“ eingestuft, so der Kreml. Die Ukraine wies sämtliche Vorwürfe zurück. „Wir haben Putin oder Moskau nicht angegriffen“, so der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. „Wir kämpfen auf unserem Hoheitsgebiet, wir verteidigen unsere Dörfer und Städte“, sagte er. Er nahm in der finnischen Hauptstadt Helsinki an einem Gipfel nordischer Länder teil.

Der Ukraine würde ein solches Vorgehen nichts auf dem Schlachtfeld nützen und nur Russland dazu provozieren, „radikalere Maßnahmen“ zu ergreifen, so Mychailo Podoljak, der Berater des ukrainischen Präsidenten. Die Stellungnahme Russlands könne darauf hinweisen, dass es sich auf einen großen „terroristischen“ Angriff auf die Ukraine in den kommenden Tagen vorbereite.

Mangott vermutet „demonstrativen Akt“ Kiews

Der Russland-Experte Gerhard Mangott hält einen Angriff von ukrainischer Seite auf den Kreml in der Nacht auf Mittwoch für wahrscheinlich – wobei es wohl nicht darum gegangen sei, Präsident Putin zu töten, so Mangott im Telefonat mit der APA. Der Politologe der Universität Innsbruck spricht von einem „demonstrativen Akt der Ukraine“. Putin sei selten im Kreml, schon gar nicht in der Nacht, das wisse Kiew.

Ein Grab aus einem Video zeigt vermutlich einen Drohnenabschuss über dem Kreml
Reuters/Ostorozhno Novosti
In einem russischen Video ist eine Explosion über dem Kreml zu sehen

„Wenn westliche Medien nun davon schreiben, dass es sich um ein Attentat auf Putin handelt, dient das der russischen Propaganda“, sagt Mangott. Mit dem Tod Putins wäre auch „nichts gewonnen, der Krieg würde fortgesetzt“.

Technisch sei Moskau in der Lage zu einer kompletten Inszenierung eines Angriffs, einer „False-Flag-Operation“ – das heißt, auch ein Fake-Video wäre möglich. Mit einem wie auch immer inszenierten Angriff könnte man der russischen Bevölkerung verdeutlichen, dass das Heimatland in Gefahr sei, dass Krieg drohe, so Mangott. „Doch nur, weil man technisch dazu in der Lage ist und ein Motiv hat, begründet das nicht immer eine Täterschaft“, sagte er der APA. Russland würde damit nämlich auch zugeben, dass die Luftabwehr offenbar nicht sehr effektiv sei.

Zwischen „False Flag“ und „schockierendem Fehler“

Auch Phillips O’Brien, Professor für strategische Studien an der schottischen Universität St. Andrews, sagte der US-Nachrichtenagentur AP: „Es war sicher kein Versuch, Putin zu ermorden, denn er schläft nicht auf dem Dach und wahrscheinlich auch nicht im Kreml.“

Er fügte hinzu, es sei noch zu früh, um zu beweisen oder zu widerlegen, ob es sich um einen russischen Versuch handelte, „entweder die Ukraine rücksichtslos aussehen zu lassen oder die russische öffentliche Meinung aufzumischen“, oder ob es eine ukrainische Operation war, um Russland in Verlegenheit zu bringen.

Drohnenangriff auf den Kreml?

Russland hat nach eigenen Angaben am Mittwoch zwei ukrainische Drohnen mit dem Ziel Kreml in Moskau abgeschossen. Ohne Beweise vorzulegen, warf der Kreml daraufhin der ukrainischen Führung einen Anschlagsversuch gegen Staatschef Wladimir Putin vor.

James Nixey vom Thinktank Chatham House sagte AP unterdessen: „Die beiden wahrscheinlichsten Möglichkeiten sind ein ‚Warnschuss‘ Kiews oder eine Operation unter falscher Flagge Moskaus, um intensivere Angriffe in der Ukraine oder mehr Einberufungen zu rechtfertigen.“ Wenn es sich um einen Warnschuss von Kiew handelte, dann war es „ein weiterer schockierender Sicherheitsfehler des russischen Staates“, sagte er weiter.

USA reagieren abwartend

Angesprochen auf die Vorwürfe Moskaus kam aus den USA eine eher zurückhaltende Reaktion. US-Außenminister Antony Blinken zweifelte die Anschuldigungen aus Moskau allerdings an. Er könne die Berichte nicht bestätigen, sagte Blinken in Washington. Er würde jedoch „alles, was aus dem Kreml kommt, mit großem Vorbehalt aufnehmen“.

Die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, sagte zuvor, die USA seien „nicht in der Lage, die Authentizität“ der russischen Behauptung zu bestätigen. Auf die Frage, ob die USA glauben, dass Putin ein rechtmäßiges Ziel eines möglichen ukrainischen Angriffs sei, sagte Jean-Pierre, dass die USA seit Beginn des Konflikts „die Ukraine nicht ermutigen oder befähigen, jenseits ihrer Grenze zuzuschlagen“.

Der stellvertretende Sprecher der Vereinten Nationen, Farhan Haq, sagte, die Vereinten Nationen seien nicht in der Lage, diese Berichte zu bestätigen. „Wir wiederholen nachdrücklich unseren Aufruf an alle Beteiligten, von jeglicher Rhetorik oder Handlung Abstand zu nehmen, die den Konflikt weiter eskalieren könnte“, so Haq. Der angebliche Drohnenangriff wäre eine erhebliche Eskalation in dem seit 14 Monaten andauernden Krieg.

Mehr Aktivität an russisch-ukrainischer Grenze

Aus dem russisch-ukrainischen Grenzgebiet werden seit Tagen vermehrt Angriffe und Aktivitäten gemeldet, die auf Sabotageakte hindeuten. Im russischen Dorf Wolna nahe der Brücke zur von Russland besetzten Halbinsel Krim geriet nach Angaben der Regionalverwaltung in der Nacht zum Mittwoch ein Treibstofflager in Brand. Tote und Verletzte habe es keine gegeben.

Rauchwolke über Sewastopol
Reuters/Mikhail Razvozhaev Via Telegram
Erst am Wochenende brannte auf der Krim ein russisches Treibstoffdepot

Bereits am Samstag war ein Treibstofflager in der strategisch wichtigen Hafenstadt Sewastopol auf der Krim nach einem mutmaßlichen Drohnenangriff in Flammen aufgegangen. Mitte April hatten die von Russland installierten Behörden auf der Krim die dortigen Gedenkfeierlichkeiten am 9. Mai zum sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg aus Sicherheitsgründen abgesagt. In Moskau werde die traditionelle Parade zum Weltkriegsende auf dem Roten Platz jedoch wie geplant stattfinden, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Mittwoch. Putin werde daran teilnehmen.

Für die nahe Zukunft wird mit einer Frühjahrsoffensive der Ukraine gegen die russischen Invasionstruppen gerechnet. Verteidigungsminister Olexij Resnikow hatte kürzlich gesagt, die Vorbereitungen für die Gegenoffensive seien so gut wie abgeschlossen.