Der russische Präsidenten Waldimir Putin
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Putins innerer Kreis

Das Spiel der Macht im Kreml

Der einsame Mann im Kreml, so oder so ähnlich wird der russische Präsident Wladimir Putin seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine dargestellt. Die Russland-Expertin Tatiana Stanowaja zeichnete kürzlich im US-Magazin „New Yorker“ ein differenziertes Bild, wie Putin seine Machtspiele im Kreml einsetzt und welche Rolle dabei seinem inneren Kreis zukommt.

Putin als ehemaliger Geheimdienstmann setzt offenbar auch bei seinem inneren Zirkel auf Geheimniskrämerei und das Verschweigen bzw. den selektiven Einsatz von Informationen. So fehlt auch Putins direkter Mannschaft offenbar ein Überblick auf das Gesamtgeschehen wie etwa im Ukraine-Krieg und anderen geplanten Aktionen, auch etwa innenpolitisch.

Stanowaja räumt auch mit dem Mythos eines Machtzentrums einer kleinen, halbwegs gleichberechtigten Gruppe von Personen im Kreml auf. Putin ergeht sich lieber in Geheimhaltung. Nur sehr wenige und immer unterschiedliche Personen wüssten von den wichtigen und geopolitischen Entscheidungen, die im Kreml fallen, so Stanowaja.

Der Kreml in Moskau
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Ein Blick auf den Kreml – das so gut wie uneingeschränkte Machtzentrum Russlands

Vereinzelung als System

So wurde vor dem Einmarsch in die Ukraine der russische Außenminister Sergej Lawrow vor den Kopf gestoßen und überrascht, weil er offenbar weder in die Entscheidung eingebunden noch darüber informiert worden war, so ein Beispiel Stanowajas.

Putin sei in Sachen Kollektiventscheidung ziemlich ineffektiv geworden, heißt es in dem Artikel. Er vergebe lieber Aufgaben und Ziele an spezielle Vertraute, die es wiederum vermeiden, mit anderen Vertrauten zusammenzuarbeiten. Vereinzelung als System also – das heißt, nur Putin selbst hat darüber einen Überblick. Ministerien und andere Stellen würden darüber nicht oder nur kursorisch informiert, die von Putin Eingesetzten setzen sich über ihre Köpfe hinweg. Das führe zu gegenseitigem Misstrauen.

„Köcheln im eigenen Saft“

Das politische System, in dem er agiere, werde immer geschlossener und köchle im eigenen Saft. Auch wenn Putin dem entkommen wollte, ginge das daher nur schwerlich. In früheren Jahren hätten die russischen Eliten sich um den Zugang zu Putin geprügelt, das sei angesichts der Entwicklung im Ukraine-Krieg aber nicht mehr der Fall.

Der russische Präsidenten Waldimir Putin
AP/Sputnik/Gavriil Grigorov
Putin auf einem inszenierten Foto bei einer Videokonferenz im April

Nun sehe man die persönliche Involviertheit Putins in Kriegsentscheidungen immer mehr als Problem statt als Lösung an. Diese Tendenz werde sich mit dem Älterwerden des mittlerweile 70-jährigen Putins und seiner möglichen Erkrankung noch verstärken.

Delegieren löst „eigene Dynamik“ aus

In Sachen Repressionen ist der Prozess dezentralisiert, und daher würden viele Personen mit ihren individuellen Entscheidungen involviert, so Stanowaja. Zwar habe der Inlandsgeheimdienst FSB dabei eine dominante Rolle, doch nicht in allen Fällen. Putin werde meist im Nachhinein informiert, aber auch das nicht in allen Fällen. Der Kreml-Chef neige auch dabei zum Delegieren. Dieser Trend des Delegierens habe jetzt aber an Dynamik gewonnen und schreite unabhängig von Putin voran, dessen Intentionen ohnehin repressionsfreundlich seien.

Das Problem bei den Entscheidungen, wie beim Delegieren, sei, dass Putin im Laufe seiner Zeit an der Macht riesige Filter in sein System eingebaut habe. Das dadurch mehr oder weniger festgefahrene Machtsystem filtere aus, wer Zugang zu Putin habe und wer nicht, welche Informationen den Kreml-Chef erreichten und welche nicht, heißt es weiter. Putin zensiere sich aufgrund seiner Überzeugungen bzw. seines „politischen Glaubens“ selbst und veranlasse dadurch seinen inneren Kreis, das ebenfalls zu tun, um negatives Feedback zu vermeiden.

Der inhaftierte Alexei Navalny auf einem Bildschirm
Reuters/Evgenia Novozhenina
Die Opposition ist kaltgestellt – hier der inhaftierte Kreml-Kritiker Alexej Nawalny auf einem TV-Bild

Anschwärzen als Informationspolitik

Es gibt offenbar kein institutionalisiertes zentralisiertes Informationssystem für den Kreml-Chef. Dass Putin deshalb ganz von „objektiven“ Informationen abgeschnitten sei, stimmt laut dem „New Yorker“- Artikel so aber nicht. Putin habe sehr wohl noch Zugang zu Informationen, allerdings teilweise mit großer Verzögerung.

Diese kritischen Informationen manifestierten sich, wenn Putin in interne Konflikte seines Machtzirkels hineingezogen werde, durch gegenseitiges Anschwärzen. So denunzierte etwa der FSB das Verteidigungsministerium, ähnlich ging etwa auch der Chef der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, gegen das Verteidigungsministerium vor.

Prigoschin „schädlicher“ als Nawalny

So führte vergangenes Jahr Prigoschins Anwerben von Häftlingen, teils Schwerverbrechern, für den Krieg in der Ukraine, das die Zustimmung Putins hatte, zu einem gröberen Konflikt. Das russische Justizministerium, das formal für die Gefängnisse zuständig ist, die oberste Staatsanwaltschaft und der FSB waren über Prigoschins Einsatz über ihre Köpfe hinweg nicht begeistert. Durch sie erfuhr Putin, dass das Projekt eigentlich bereits in seinen Anfängen gescheitert war.

Die Liste dieser Beispiele ist offenbar lang. Prigoschin sei auch eine Art Sonderfall, mit seinen Attacken auf die Militärführung und anderen Eskapaden habe er im letzten Jahr dem System mehr geschadet als etwa der inhaftierte Oppositionelle Alexej Nawalny. Prigoschin habe allerdings das Ohr und auch den Schutz Putins.

Der Wagner-Chef und der „Verrat“

Das Institute of the Study of War (ISW) sieht denn auch etwa das von der „Washington Post“ berichtete Angebot Prigoschins, der Ukraine Stellungen der russischen Armee zu verraten, als Angriff auf die Militärführung Russlands und nicht als Attacke auf den Kreml respektive Putin, wie das ISW auf seiner Website schreibt.

Die „Washington Post“ hatte unter Berufung auf Dokumente des US-Geheimdienstes berichtet, Prigoschin habe dem ukrainischen Geheimdienst den Verrat russischer Stellungen im Gegenzug für einen Rückzug der ukrainischen Streitkräfte aus Bachmut angeboten. Die Ukraine habe das Angebot abgelehnt. Auch die wiederholten Drohungen Prigoschins, „seine“ Wagner-Söldner von Kämpfen abzuziehen, gehörten in diese Kategorie.

Yevgeny Prigozhin
Reuters/Yulia Morozova
Der Chef der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin

System radikaler als Putin selbst?

Das derzeitige System in Russland könne sich als widerstandsfähiger, langwieriger und möglicherweise radikaler als Putin selbst erweisen, heißt es im „New Yorker“ weiter. Wie es nach Putin weitergehe, hänge von den Umständen von Putins Ableben ab, bzw. wie dieses auch politisch genützt würde.

Putin will auch den Zeitpunkt seiner Machtübergabe selbst bestimmen und dann einen Nachfolger empfehlen, wie er Mitte 2021 live im russischen Fernsehen verkündete. „Natürlich kommt die Zeit. Und ich hoffe, dass ich sagen kann, dass dieser oder jener Mensch meiner Meinung nach würdig ist, solch ein wunderbares Land wie unsere Heimat Russland zu führen.“

Er sehe es als seine Verantwortung, eine Empfehlung zu geben, so Putin, der fälschlicherweise meinte, das sei in jedem Land der Welt so. Ob Putin zu Lebzeiten allerdings tatsächlich eine Empfehlung abgeben wird, darüber kann nur spekuliert werden.

Harter Kampf um Putin-Nachfolge erwartet

Sollte Putin im Amt sterben, ist das Prozedere für die Nachfolge an sich in der Verfassung geregelt, so etwa der Experte Fabian Burkhardt vom deutschen Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropa-Forschung in der „Frankfurter Rundschau“. Der Premierminister würde interimsmäßig die Amtsgeschäfte des Präsidenten führen und innerhalb von drei Monaten Neuwahlen initiieren.

Ob das dann tatsächlich so glatt läuft, und sich die diversen Fraktionen im Kreml auf einen Kandidaten, weitaus unwahrscheinlicher eine Kandidatin, einigen könnten, sei allerdings dahingestellt. Politische Beobachter und Beobachterinnen erwarten einen Kampf mit harten Bandagen um das Präsidentenamt, wobei auch eine „Marionette“ einer der Fraktionen eine Möglichkeit darstellt.

Die Chancen stehen laut Stanowaja gut, dass das System Putin überlebt. Das hänge auch damit zusammen, wie der Krieg die Lage innerhalb Russlands verändert habe. So sei der innere Sicherheitsapparat des russischen Staates auch gesetzlich gestärkt worden. Jederzeit können so die Daumenschrauben weiter angezogen werden, auch im Falle eines Wechsels an der Spitze des Kreml.

Woher die Informationen kommen

Stanowaja, die lange Zeit in Russland verbrachte, gilt als gut informiert. Laut eigenen Angaben sind viele ihre Informationen allerdings Open Source auf sozialen Netzwerken, etwa auch durch Diskussionen in Telegram-Kanälen. Ebenfalls gelang es ihr offenbar, bei ihrem Wegzug aus Russland Quellen offenzuhalten, wie sie selbst sagt.

Es gebe Ultrapatrioten und Kriegsberichterstatter, die über militärische Angelegenheiten informierten, liberal gesinnte Medien, prominente Experten und Expertinnen, Journalisten, Journalistinnen und Politiker, so Stanowaja. Die Menschen reden viel, und der Kreml lasse Telegram zumindest vorerst ohne Zensur funktionieren, weil es zu einer Plattform für die Kommunikation innerhalb der russischen Elite geworden sei, auch innerhalb des Kreml selbst, so Stanowaja darüber, wie sie zu Informationen kommt.

Bei Insiderinformationen habe sie den Vorteil, dass sie keine Journalistin sei und als solche auch nicht wahrgenommen werde. Auch werde sie in Russland nicht als anti oder pro Putin wahrgenommen, das erleichtere das Gespräch mit Insidern. So würden Behörden oder Personen in deren Umfeld mit ihr sprechen, ohne Angst davor zu haben, dass die weitergegebenen Informationen gegen sie verwendet oder gar direkt zuweisbar publiziert würden. Besonders seit dem Krieg hätten hochrangige Persönlichkeiten in Russland praktisch aufgehört, mit irgendjemandem von „feindlichen“ Organisationen, wie etwa oppositionellen Medien, zu sprechen, so Stanowaja über ihr „Privileg“.