Türkeiflagge mit dem Gesicht von Erdogan
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Erdogan vs. Kilicdaroglu

Tag der Richtungswahl in der Türkei

Nach 20 Jahren unter Recep Tayyip Erdogan steht die Türkei am Scheideweg. Bei der Präsidentschaftswahl am Sonntag muss Erdogan erstmals um seinen Machterhalt bangen. Umfragen sagen ihm und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu, Chef der oppositionellen Volkspartei CHP, ein enges Rennen voraus. Die rund 64 Millionen Wahlberechtigten entscheiden bei der Wahl auch über das künftige politische System. Medien sagen eine „Schicksalswahl“ voraus und sehen einen möglichen „historischen Wendepunkt“.

Die Wahllokale öffneten um 8.00 Uhr (Ortszeit), landesweit kann bis 17.00 Uhr (16.00 Uhr MESZ) abgestimmt werden. Erdogan wollte die Ergebnisse der Parlaments- und Präsidentenwahlen ursprünglich aus Istanbul verfolgen, am Nachmittag reiste er wider Erwarten nach der Stimmabgabe aber doch in die Hauptstadt Ankara, wie die türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Die Abstimmung werde hoffentlich störungsfrei ablaufen, so der Amtsinhaber.

Fernsehbilder zeigten Kilicdaroglu am Sonntag an der Wahlurne in Ankara. „Wir haben die Demokratie sehr vermisst“, sagte er. Der „Frühling“ werde hoffentlich bald kommen, so der 74-Jährige in Bezug auf einen möglichen Sieg bei der Wahl.

Kilicdaroglu gegen „autoritäre Führung“

Der Sozialdemokrat Kilicdaroglu hat bei einem Wahlsieg umfassende Reformen in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit angekündigt. Ein demokratischer Regierungswechsel wäre auch ein „Geschenk an die Weltpolitik“ in der Türkei, sagte Kilicdaroglu. Man wolle die Türkei „einer autoritären Führung entreißen“, so Erdogans Herausforderer in einem Interview der ARD-„Tagesthemen“.

Er wolle „sämtliche demokratischen Standards der Europäischen Union“ vollständig umsetzen. Auch eine Abkehr von Erdogans Wirtschaftsmodell, das durch Zinssenkungen zu einer Hyperinflation und verheerenden Wirtschaftskrise geführt hat, plant sein Bündnis, in dem sich sechs Parteien mit sehr unterschiedlicher Ausrichtung – darunter Sozialdemokraten, Nationalisten und gemäßigte Islamisten – vereint haben.

Wahlplakat von Kemal Kilicdaroglu
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Kilicdaroglu hat versprochen, die Türkei modernisieren zu wollen

Mit Blick auf den Umgang mit dem inhaftierten Ex-Chef der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtas, und dem wegen vermeintlich regierungskritischer Proteste inhaftierten Menschenrechtler Osman Kalava sagte er, sich an die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte halten zu wollen, der die Freilassung der beiden gefordert hatte. Erdogan hatte die Inhaftierten mehrmals als „Terroristen“ bezeichnet.

Scharfe Attacken im Wahlkampf

Im Wahlkampf ging der amtierende Präsident auch den Oppositionsblock und Teile der Gesellschaft immer wieder mit scharfer Rhetorik an. Er äußerte sich etwa wiederholt LGBT-feindlich und machte Teilen der Opposition den Vorwurf, sich für die Rechte von homosexuellen, bisexuellen und Transmenschen auszusprechen. Der Westen wolle ihn stürzen, erklärte Erdogan, der gute Beziehungen nach Russland unterhält und im Ukraine-Krieg als Vermittler auftrat.

Kilicdaroglu könne so viel trinken wie er wolle, das Volk werde das Land nicht einem „Säufer und Betrunkenen“ überlassen, sagte Erdogan, der zwischenzeitlich krankheitsbedingt eine Wahlkampfpause einlegen musste, vor Hunderttausenden Anhängern in Istanbul. Zudem würde er mit „Terroristen“ zusammenarbeiten.

Erdogan bangt erstmals um Macht

Die scharfe Rhetorik im Wahlkampf dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass Erdogan als Präsident erstmals seit Jahrzehnten um seine Macht bangen muss. Nicht nur gesundheitlich, auch politisch gilt Erdogan als angeschlagen. Seine Wirtschaftspolitik hat einen Teil seiner Wählerschaft in die Armut getrieben, die Inflationsrate liegt bei über 50 Prozent. Auch sein Krisenmanagement nach dem verheerenden Erdbeben vom 6. Februar mit mehr als 50.000 Toten stand in der Kritik.

In einer Erhebung des Instituts Konda sprachen sich 43,7 Prozent der Befragten für Erdogan und 49,3 Prozent für Kilicdaroglu aus. Neben ihnen gibt es nun nur noch einen weiteren Präsidentschaftskandidaten, den Nationalisten Sinan Ogan, der keine Siegeschance hat. Ein weiterer Kandidat, der säkular-nationalistische Muharrem Ince, stieg am Donnerstag aus dem Rennen aus – was den Ausgang entscheidend zugunsten der Opposition beeinflussen könnte.

Wahlveranstaltung von Recep Tayyip Erdogan
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Nach 20 Jahren an der Macht droht Erdogan am Sonntag seine Abwahl

„Ich bin vorsichtig optimistisch, dass die Wahl zugunsten der Opposition entschieden wird“, sagte Soziologe Kenan Güngör im APA-Gespräch. Wenn nicht im ersten Wahlgang, so dürfte es bei Kilicdaroglu in der Stichwahl zum Sieg reichen. Neuer Präsident wird, wer im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen erringt. Schafft das keiner der Kandidaten, treten die zwei Bestplatzierten zwei Wochen später in einer Stichwahl gegeneinander an.

„Unfairer“ Wahlkampf und Sorge vor Wahlbetrug

Der Wahlkampf sei jedoch „von vorne bis hinten“ unfair gewesen, kritisierte Güngör den Einsatz des Staatsapparates durch Erdogan und seine AK-Partei. Das gehe so weit, dass der Innenminister sogar Zugriff auf die Wahlurnen verlangt habe, was ein „absolutes No-Go“ sei. Zuvor hatte er vor einem möglichen Putsch am Wahltag gewarnt.

Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) sagte, die türkische Regierung habe ihre „Bemühungen zur Durchsetzung der Zensur“ und Kontrolle auf Social Media und von Internetseiten vor der Wahl am Sonntag verschärft. Erdogan werde „erhebliche Kontrolle über das digitale Ökosystem ausüben, um den Wahlausgang zu untergraben“. Der Mobilfunkanbieter Turkcell warnte bereits im Vorfeld vor Ausfällen der Internetverbindung ab Samstag.

Die Opposition hat bereits reagiert und schickt 300.000 Beobachterinnen und Beobachter in die Wahllokale – doppelt so viele wie bei der Präsidentschaftswahl 2018. Auch die Nichtregierungsorganisation Oy ve Ötesi stellt 100.000 Wahlbeobachter, außerdem werden rund 400 Expertinnen und Experten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) die Wahl verfolgen. „Der Wahlkampf ist manipuliert. Die Frage ist, ob die Wahlzettel auch manipuliert werden“, so Güngör.

Wahlveranstaltung von Kemal Kilicdaroglu in Izmir
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Eine Wahlveranstaltung Kilicdaroglus in Izmir

Warnung vor Einmischung aus Russland

Nach dem Auftauchen kompromittierender Bilder, auf denen angeblich der nun zurückgetretene Präsidentschaftskandidat Ince zu sehen ist, deutete Kilicdaroglu zudem in Twitter an, dass Russland im türkischen Wahlkampf mitmischen könnte.

In seinem Posting schrieb der CHP-Vorsitzende: „Liebe russische Freunde, ihr steckt hinter den Montagen, Verschwörungen, Deep-Fake-Inhalten und Tonbändern, die gestern in diesem Land aufgetaucht sind. Wenn ihr wollt, dass unsere Freundschaft nach dem 15. Mai fortbesteht, dann lasst die Finger vom türkischen Staat.“ Man sei „für Zusammenarbeit und Freundschaft“.

Der Kreml wies die Vorwürfe der russischen Einmischung in die Präsidentschaftswahlen zurück. Juri Mawaschew, Leiter des in Russland ansässigen Thinktanks Centre for New Turkish Studies (YETAM), sagte jedoch gegenüber BBC Türkei, er habe „keinen Zweifel daran, dass die russischen Spezialeinheiten auf die eine oder andere Weise alles tun werden, um sicherzustellen, dass Erdogan gewinnt“. Russland Präsident Wladimir Putin habe bereits viel in ihn investiert.

Medien sehen „Schicksalswahl“

Über eine Schicksalswahl einer Nation zu sprechen, sei oft eine Übertreibung – bei der Präsidentenwahl in der Türkei am Sonntag sei diese Bezeichnung aber eher eine Untertreibung, schreibt die dänische Tageszeitung „Politiken“. Würde Erdogan tatsächlich abgewählt werden, sei das „generell ein Sieg für die Demokratie“. Auch die BBC sprach im Vorfeld von einem „historischen Wendepunkt“ für Türkinnen und Türken.

Seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 hat Erdogan so viel Macht wie noch nie – er ist Präsident, Premier und Vorsitzender der AKP in einem. Er startete als Reformer und Hoffnungsträger des Westens, gilt nun aber im westlichen Lager als Totengräber der Demokratie in der Türkei. Kritiker fürchten auch deswegen, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern vollends in die Autokratie abgleiten könnte, sollte Erdogan erneut gewinnen.

Obwohl noch nie so viele Faktoren gegen Erdogan gesprochen hätten, warnt die „New York Times“ („NYT“) vor verfrühter Euphorie: Selbst wenn sich die Opposition durchsetzen sollte, so stünde sie vor denselben strukturellen Problemen, die das Land seit Jahren lähmen.