Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
EBU
Selenskyj

Ukraine braucht mehr Zeit vor Offensive

Die Ukraine will vor ihrer lange erwarteten Gegenoffensive das Eintreffen weiterer gepanzerter Fahrzeuge abwarten. „Wir brauchen noch ein bisschen mehr Zeit“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. In der seit Wochen umkämpften Stadt Bachmut dürfte die ukrainische Armee indes Geländegewinne erzielt haben. Die russische Söldnergruppe Wagner ist laut ihrem Chef in Gefahr, eingekesselt zu werden.

Mit der bereits gelieferten Ausrüstung könne man zwar eine Offensive starten, aber durch Warten auf weiteres Equipment würde man Opfer vermeiden, sagte Selenskyj der BBC und mehreren anderen europäischen TV-Sendern. Mit dem, was bereits vorhanden sei, könne man erfolgreich sein, sagt Selenskyj: „Aber wir würden eine Menge Menschen verlieren. Ich finde, das ist inakzeptabel.“

Die genauen Pläne für die angekündigte ukrainische Offensive sind geheim. Die russischen Truppen haben mit Sicherungsmaßnahmen entlang der mehr als 1.400 Kilometer langen Front begonnen. Wie viel von Russland besetztes Staatsgebiet die ukrainischen Truppen zurückerobern können, ist ungewiss. Selenskyj betonte gegenüber der BBC die Notwendigkeit des Gegenangriffs. Er warnte vor den Risiken eines „eingefrorenen Konflikts“. Das sei es, worauf Moskau setze.

Selenskyj: Umgehung von Sanktionen verhindern

Westliche Sanktionen hätten bereits erhebliche Auswirkungen auf die russische Rüstungsindustrie, etwa bei Artilleriemunition. „Sie haben noch viel in ihren Lagern, aber wir bemerken bereits weniger täglichen Beschuss in einigen Gebieten“, sagte der Präsident. Er forderte, die Umgehung der Sanktionen zu verhindern, etwa die Lieferung von Gütern an Russland über Drittstaaten.

Ein ukrainischer Soldat feuert eine Panzerfaust ab
AP/LIBKOS
Die seit Wochen erwartete ukrainische Großoffensive hat noch nicht begonnen

Selenskyj wies erneut russische Vorwürfe zurück, die Ukraine stecke hinter dem angeblichen Drohnenangriff auf den Kreml in Moskau vergangenen Woche. Dabei könne es sich eher um eine „False-Flag-Operation“ handeln, mit der Russland einen Vorwand schaffen wolle, um die Ukraine noch stärker anzugreifen. „Sie suchen ständig nach etwas, das wie eine Rechtfertigung klingt“, sagte Selenskyj. Aber das habe nicht gewirkt. „Selbst ihre eigenen Propagandisten haben es nicht geglaubt, weil es sehr, sehr künstlich wirkte.“

Ukrainische Geländegewinne bei Bachmut

Aus der umkämpften Stadt Bachmut im Osten der Ukraine meldete Kiew indes Erfolge gegen die russischen Truppen. „Wir führen dort effektive Gegenangriffe“, teilte der ukrainische Heereskommandeur Olexandr Syrskyj am Mittwochabend mit. An einigen Frontabschnitten seien die russischen Truppen bis zu zwei Kilometer zurückgewichen.

Russischer Teilrückzug in Bachmut

Die Ukraine meldet Erfolge in der hart umkämpften Stadt Bachmut. Die russischen Truppen haben sich offenbar aus einigen Gegenden zurückgezogen.

Nach Syrskyjs Darstellung wurden die bei Bachmut eingesetzten Wagner-Kampfverbände an einigen Abschnitten durch reguläre russische Armee-Einheiten ersetzt. Diese weniger gut ausgebildeten Einheiten seien nun geschlagen worden, sagte Syrskyj. Allerdings gehe die Schlacht um Bachmut weiter.

Prigoschin befürchtet Einkesselung

Die Angaben der ukrainischen Armee zu ihren Erfolgen können nicht unabhängig geprüft werden. Allerdings deuten auch Aussagen von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin darauf hin, dass die Lage für die russischen Angreifer bei Bachmut schwierig ist.

„Angesichts fehlender Munition droht sich der ‚Fleischwolf‘ nun in umgekehrter Richtung zu drehen“, schrieb Prigoschin am Mittwochabend auf Telegram. Wegen hoher Verluste habe Wagner den Flankenschutz regulären Einheiten der russischen Armee überlassen müssen. „Es besteht jetzt die ernsthafte Gefahr der Einkesselung von Wagner durch den Zusammenbruch der Flanken“, schrieb Prigoschin. „Und die Flanken weisen bereits jetzt Risse auf und bröckeln.“

Plünderungsvorwürfe gegen Russland

Parallel zur Fortbringung der Zivilbevölkerung in der von ihnen kontrollierten Region Saporischschja im Süden der Ukraine haben die russischen Besatzer nach Angaben aus Kiew auch mit Plünderung und Demontage in den dortigen Industriezonen begonnen.

In Enerhodar seien alle medizinischen Einrichtungen der Stadt vollständig geplündert worden, teilte der ukrainische Generalstab in seinem Lagebericht mit. Die gesamte medizinische Ausrüstung sei nach Simferopol auf die ebenfalls besetzte Halbinsel Krim gebracht worden, die Russland 2014 annektiert hatte. Auch diese Angaben konnten nicht unabhängig geprüft werden.

Kreml sieht Kriegsziele „teilweise“ erreicht

Ungeachtet der Berichte über Geländegewinne der Ukraine im Osten des Landes sieht Moskau seine Kriegsziele „teilweise“ als erreicht an. Wichtigste Aufgabe sei es gewesen, die Menschen im Donbas zu schützen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow dem bosnischen Fernsehsender ATV.

„Teilweise ist es uns gelungen, diese Aufgabe zu erfüllen, zum Teil sind wir davon aber noch weit entfernt“, so Peskow. Der angebliche Schutz der Bevölkerung im Donbas ist einer der Vorwände, mit denen die russische Führung den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen versucht.

stark beschädigtes Gebäude in Mariupol
Reuters/Alexander Ermochenko
Städte wie Mariupol wurden bei den Kämpfen gegen die russischen Truppen schwer in Mitleidenschaft gezogen

Das Ausbleiben militärischer Erfolge begründete Peskow wie bereits in der Vergangenheit damit, dass Russland angeblich keinen Krieg führe. „Krieg führen ist etwas ganz anderes, das bedeutet die totale Zerstörung der Infrastruktur, die totale Zerstörung von Städten. Wir tun das nicht“, sagte der Kreml-Sprecher.

Tatsächlich aber attackiert das russische Militär seit dem vergangenen Herbst regelmäßig ukrainische Städte und Objekte der Infrastruktur – speziell das Energieversorgungsnetz. Städte wie Mariupol wurden während der Kampfhandlungen in Trümmer gelegt. Tausende ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten sind bereits gestorben.

London liefert Mittelstreckenraketen

Großbritannien bestätigte indes, der Ukraine wie angekündigt Raketen mit größerer Reichweite vom Typ Storm Shadow zu liefern. „Die Stiftung dieser Waffensysteme bietet der Ukraine die beste Möglichkeit, sich zu verteidigen“, sagte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace. Die russischen Kräfte auf ukrainischem Territorium könnten nun zurückgedrängt werden. Er machte keine Angaben, ob die Ukraine die Waffen bereits erhalten hat.

Der US-Sender CNN hatte zuvor berichtet, Großbritannien habe bereits mehrere Raketen geliefert. Ein Downing-Street-Sprecher sagte, Premierminister Rishi Sunak habe beim Besuch Selenskyjs im Februar angekündigt, Großbritannien werde das erste Land sein, das Langstreckenwaffen liefere, und daran habe sich nichts geändert. Ein westlicher Regierungsvertreter sagte CNN, die Ukraine habe Großbritannien versichert, die Storm Shadow nur innerhalb ihres völkerrechtlich anerkannten Territoriums einzusetzen und nicht gegen Ziele in Russland.