Teya und Salena
EBU/Sarah Louise Bennett
Schweden, Finnland, Österreich

Wer gewinnt den Song Contest?

Am Samstagabend ist es so weit: Das große Finale des 67. Eurovision Song Contests geht in Liverpool über die Bühne. Im Vorfeld als Siegesanwärter hoch gehandelt werden Schweden und Finnland – aber auch Österreich könnte heuer vorne mitmischen, und das auch gleich mit Startnummer eins. Obwohl die Semifinal-Shows insgesamt nicht ganz so vielversprechend schienen, wird das Finale abwechslungsreich und spannend – nicht zuletzt, weil nun auch die Jurys am Wort sind und es kleine Neuerungen im Abstimmungsmodus gibt.

Eines steht fest: Im Finale werden die Karten neu gemischt. Denn heuer waren die nationalen Expertenjurys – nach Unregelmäßigkeiten im Vorjahr in den beiden Semifinale – erstmals nicht stimmberechtigt. Die qualifizierten Acts konnten also beim Publikum punkten – allerdings weiß man nicht, wer wie gut ankam, die genauen Semifinal-Ergebnisse werden erst nach dem Finale veröffentlicht.

Die Jurys gelten gemeinhin als konservativer in ihrem Abstimmungsverhalten. Das könnte vor allem der Favoritin Loreen zugute kommen, der die schwedische Popmanufaktur mit „Tattoo“ wieder einen Hit nach bekannt präziser Bauart mitgegeben hat.

Schweden: Loreen – „Tattoo“

Favoritin mit kleinen Fragezeichen

Loreen musste keinen Ton singen, da hatten sie die Wettbüros schon auf Platz eins. Diese Vorschusslorbeeren müssen sich aber auch bestätigen, vor allem beim Publikum: Im Vergleich zu „Euphoria“, ihrem Siegerlied von 2012, ist „Tattoo“ deutlich düsterer und nimmt erst recht spät Fahrt auf. Auch die Inszenierung auf der Bühne ist keineswegs unbeschwert. Und es muss die Frage erlaubt sein, ob ihre ultralangen Fingernägel nicht den einen oder die andere davon abhalten, für sie zu voten.

Finnische Härte

Genau umgekehrt verhält es sich beim finnischen Rapper Käärijä, der spätestens seit Dienstag mit „Cha Cha Cha“ als erster Herausforderer gilt. Seine harten Beats und die exaltierte Bühnenshow mit grellgrünen Hulk-Puffärmeln ohne dazugehörendes Hemd spricht wohl eher einen Teil des Publikums an. Wie groß dieser ist und wie jene reagieren, die lieber schön gesungene Lieder hören wollen, bleibt abzuwarten. Die Jurys gelten bei solchen Nummern auch eher als zurückhaltend – und sie könnten es dem Finnen sehr übel nehmen, wenn er im letzten, langsameren Teil des Songs recht deutlich an den richtigen Tönen vorbesingt.

Finnland: Käärijä – „Cha Cha Cha“

Österreich zurück im Finale

Erstmals seit fünf Jahren hat auch Österreich am Donnerstag den Einzug ins Finale geschafft. Teya & Salena, die mit ihrem selbstgeschriebenen Song „Who the Hell Is Edgar?“ antreten, sorgten schon im Halbfinale für eine tosende Halle. Die beiden jungen Frauen gelten in Liverpool als einer jener Acts, die verlässlich auch backstage für gute Stimmung sorgen und bei deren Auftritten sogar im Pressezentrum Jubel ausbricht. Abgesehen von ihrer Bühnenperformance sammeln Teya & Salena bei Interviews und Pressekonferenzen Sympathiepunkte – auch weil hinter dem partytauglichen Song neben einer feministischen Botschaft auch eine Kritik am Musikbusiness steckt.

Österreich: Teya & Salena – „Who The Hell Is Edgar?“

Ukraine als Partner und Mitfavorit

Schwer vorherzusagen sind die Chancen jener Länder, die nicht durch die Mühen eines Semifinales gehen mussten, sondern direkt für Samstag qualifiziert sind: die großen Länder Frankreich, Großbritannien, Spanien, Italien und Deutschland sowie Vorjahrssieger Ukraine, der nach dem Triumph des Kalush Orchestras den Bewerb ja nicht selbst austragen darf, dafür beim eingesprungenen Gastgeber Großbritannien aber als Partner in den Shows viel Aufmerksamkeit erfährt. Und die Ukraine scheint ihrem Ruf, beim Song Contest chancenreiche Titel beizusteuern, auch heuer gerecht zu werden. Am Start ist das Duo Tvorchi, der Elektropopsong „Heart Of Steel“ ist eingängig und in den Wettbüros zumeist in den Top Five zu finden.

Tvorchi aus der Ukraine
EBU/Chloe Hashemi
Die Ukraine ist heuer Mitgastgeberin in Liverpool – das Duo Tvorchi tritt mit „Heart of Steel“ an

Italien heuer nicht in allerhöchster Liga?

Das in den vergangenen Jahren mit außergewöhnlich guten Beiträgen herausstechende Italien schickt Marco Megoni. Seinem textlastigen Song „Due Vite“ mag es ein wenig an Eingängigkeit für einen Platz ganz vorne fehlen. Bessere Chancen werden der französischen Sängerin La Zarra gegeben, die mit dem kühlen Elektrochanson „Evidemment“ auch wortwörtlich ziemlich hochstehende Qualität abliefert.

Mit ORF.at durchs Finale

ORF.at begleitet auch das Finale am Samstag mit einem Liveticker – samt Livestream, Bildern, animierten GIFs und Social-Media-Kommentaren.

Das Gastgeberland vertritt Mae Muller, die mit „I Wrote A Song“ eine durchaus gefällige Nummer beisteuert. Für ein Ergebnis wie im Vorjahr, als ihr Landsmann Sam Ryder den zweiten Platz holte, wird es vermutlich aber nicht reichen. Sehr spanisch ist der spanische Beitrag ausgefallen. Blanca Paloma bringt mit „Eaea“ viel Emotion und Atmosphäre auf die Bühne.

Keine Angst vor wilden Männern

Und dann ist da noch Deutschland. Die Dark-Rock-Band Lord of the Lost wurde beim Vorentscheid vor allem durch Publikumsstimmen auf die Reise nach Liverpool geschickt. „Blood & Glitter“ ist ein recht braver und wohl auch eingängiger Rocksong, der nur durch Bandoutfit und ein paar Reizwörter im Text wilder wirken soll als er ist. Das sollte vor allem jene ansprechen, die Ironie vermuten, wo allerdings gar keine ist.

Bei den tatsächlichen Rockfans machen die Australier Voyager den Deutschen Konkurrenz. Auch „Promise“ ist ein recht konventionell gestrickter Song, der noch dazu im 80er-Jahre-Outfit daherkommt, Hair-Crimes und Umschnallkeyboards inklusive.

Für den durchgeknalltesten Act des Jahrgangs muss man bis zur Startnummer 25 warten. Die kroatische Rockkabarettband Let 3 liefert gefühlt drei Songs in einem und beinharte wie nach einem Strip im Feinripp auch beinbehaarte Politsatire. Etwas netter im Auftreten komplettiert Nachbarland Slowenien die Riege der Bands im Finale: Joker Out loten mit „Carpe Diem“ aus, wie weit man mit einer Indie-Nummer im Song Contest kommen kann.

Kroatien: Let 3 – „Mama SC“

Frauen mit und ohne Chancen

Neben Loreen sind heuer auch noch einige andere Solokünstlerinnen im Rennen – so unterschiedlich wie ihre Auftritte sind aber auch ihre Chancen in Liverpool. Israel schickt mit Noa Kirel und „Unicorn“ einen nationalen Popstar ins Rennen, der zur Sicherheit nur die halbe Nummer singt und sich danach auf fast nackten Bodentanz konzentriert. Der ebenfalls solide gut gehandelten norwegischen Kandidatin Alessandra fehlt zwar auch die Hose, ihre Wikingerhymne „Queen of Kings“ kommt aber deutlich brachialer daher.

In ORF1 und auf FM4

Das Finale ist am Samstag ab 21.00 Uhr live in ORF1 und im Livestream in tvthek.ORF.at zu sehen. Für FM4 kommentieren der deutsche Satiriker Jan Böhmermann und der Sänger Olli Schulz. Zu hören ist das Spektakel nicht nur auf FM4, in der ORF-TVthek gibt es auch einen eigenen Stream für das passende Bild zum Ton.

Polen polarisiert gerne und heuer mit Topmodel-Gewinnerin und Influencerin Blanka. Schiebungsgerüchte bei der nationalen Vorausscheidung lächelt sie in Liverpool professionell-patzig weg, bei ihrer Performance auf der Bühne könnte man aber ohnehin meinen, sie trete bei einem karibischen Playback-Sommerhitbewerb auf.

Zeitloses Song-Contest-Material

Für Armenien kommt mit Brunette und „Future Lover“ eine Nummer der alten Song-Contest-Schule – balladesker Anfang, große Steigerung. Ähnlich Alika aus Estland mit „Bridges“ – viel Stimme, viel Pathos – wenig Wiedererkennungswert. Quasi am untersten Ende der Buchmacherwertung rangiert wenig überraschend Mimicat aus Portugal – schon der Finaleinzug mit der Flamenco-Cabaret-Nummer „Ai coracao“ war eine Überraschung. Genauso groß war diese aber auch über das Weiterkommen von Monika Linkyte aus Litauen, die mit „Stay“ und ihrer vierköpfigen Background-Chor-Runde auch schon vor 20 Jahren antreten (und ausscheiden) hätte können.

Armenien: Brunette – „Future Lover“

Nur Spurenelemente von Ethnopop

Wenig einschätzen lässt sich das Abschneiden Tschechiens heuer: Die Sechs-Frauen-Band Vesna liefert mit „My Sister’s Crown“ einen der komplexesten Song im Starterfeld. Sie punktet mit nur sehr wenig subtiler Ukraine-Unterstützungsmessage – anderes, wie die Performance mit überlangen Zöpfen, bleibt eher kryptisch.

Keine großen Rätsel gibt es hingegen bei Albanien. Von dort ist die junge Sängerin Albina Kelmendi unterstützt von drei Geschwistern und Eltern nach Liverpool gekommen: Balkan-Folklore und eine Choreographie mit roten Tüchern darf fast nie beim Song Contest fehlen und wird immer irgendwoher Stimmen bekommen. Ein heuer ebenfalls nur wenig repräsentiertes Genre – Ethno in der Dance-Version – bringt Pasha Parfeni für Moldawien mit „Soarele si luna“. Mit dabei hat er einen esoterischen Text auf Rumänisch, ein Flötensolo (seit Go_A 2021 und dem Kalush Orchestra im Vorjahr auch Song-Contest-salonfähig) und Tänzerinnen mit Hornfrisuren.

Moldawien: Pasha Parfeni – „Soarele si luna“

Ein Doppelgänger kommt selten allein

Doppelgängeralarm in zumindest in einem Fall gewollterem Sinn lösen heuer zwei männliche Teilnehmer aus. Gustaph aus Belgien, der für die Gute-Laune-Nummer „Because Of You“ Gospel und House vermischt, nennt Boy George als sein Vorbild, was er optisch aber auch schwer verheimlichen könnte. Beim serbischen Vertreter Luke Black ist hingegen die Imitation von Trent Reznor – optisch, mimisch und stimmlich – unverkennbar. Die düstere Inszenierung mit LED-Megamonster hebt sich zwar ab, könnte es aber trotzdem schwer haben, Fans zu finden.

Teletwitter

Vom Teletwitter-Team ausgewählte Tweets mit „#ESCORF“ werden während der TV-Übertragungen auf der ORF-Teletext-Seite 780 eingeblendet.

Stehen und liegen

Der Großteil der alleine stehenden Männer – die heuer im übrigen relativ oft auf dem Boden herumlagen – wurde bereits in den Halbfinal-Shows ausgesiebt. Den Sprung ins Finale schaffte aber Remo Forrer aus der Schweiz, dessen Antikriegsklavierballade „Watergun“ zu den Liedern gehört, die man meint schon ewig irgendwoher zu kennen. Und Zypern darf mit dem Australier Andrew Lambrou weiter, der mit „Break a Broken Heart“ voller Inbrunst und hektoliterweise LED-Wasserfälle aufbietet.