Eine Person stapelt Stimmzettel in Istanbul
Reuters/Dylan Martinez
Türkei

Wahlbeobachter üben Kritik an Abläufen

Die Präsidentschaftswahl in der Türkei geht in die zweite Runde. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu stehen sich am 28. Mai in einer Stichwahl gegenüber. Ein erstes Fazit des ersten Wahlgangs zogen die internationalen Wahlbeobachter – sie orteten Mängel an den Abläufen und verweisen auf teils problematische Umstände.

Erdogan verfehlte in der ersten Runde der Präsidentenwahl die absolute Mehrheit, wie die Wahlbehörde am Montag in Ankara mitteilte. Oppositionsführer Kilicdaroglu lag nach Auszählung von 99,9 Prozent der Stimmen knapp hinter ihm, womit keiner der beiden Bewerber mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt. Der Sieger wird also per Stichwahl ermittelt.

In der ersten Runde erhielt Erdogan 49,5 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu kam auf 44,89 Prozent. Der Ultranationalist Sinan Ogan lag abgeschlagen mit 5,17 Prozent auf dem dritten Platz. Auf ihn könnte damit die Rolle des Königsmachers zukommen. Für einen Sieg in der ersten Runde am Sonntag wäre eine absolute Mehrheit notwendig gewesen.

Prinzipien einer demokratischen Wahl nicht erfüllt

Kritik an den Abläufen in der ersten Runde äußerten am Montag unterdessen die Wahlbeobachtungsmission des Europarats und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die Türkei erfülle die Prinzipien einer demokratischen Wahl nicht, sagte der deutsche Sozialdemokrat Frank Schwabe in Ankara. Er steht der Wahlbeobachtungsmission des Europarats vor.

Bei der Stimmauszählung habe es an Transparenz gefehlt, hieß es von der Delegation. Die Wahlbehörde solle klarstellen, wie genau sie Wahlergebnisse veröffentliche, so Schwabe. Seitens der OSZE-Delegation hieß es, die Wahlbehörde sei undurchsichtig vorgegangen. Zudem hätten Präsident Erdogan und die herrschenden Parteien des Landes einen ungerechtfertigten Vorteil gegenüber den Oppositionsparteien genossen.

Eine Grafiken zeigt regionale Mehrheiten für Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kilicdaroglu nach der Präsidentschaftswahl in der Türkei
Grafik: ORF; Quelle: New York Times/www.sozcu.com.tr

Die Wahlbehörde selbst erkannte keine Mängel – die Wahl sei ohne Probleme abgelaufen, hieß es. Der Behörde wird unterstellt, unter dem Einfluss der Regierung zu stehen. Laut Europarat habe es schon vor der Wahl keine gleichen Voraussetzungen gegeben. Erdogans AKP habe „ungerechtfertigte Vorteile“ gehabt, etwa mit Blick auf die mediale Berichterstattung.

„Arbeit der Wahlbehörde intransparent“

„Ich bedauere festzustellen, dass die Arbeit der Wahlbehörde intransparent war, ebenso wie eine überwältigende Voreingenommenheit der öffentlichen Medien und die Einschränkungen der Meinungsfreiheit“, sagte Jan Petersen, Leiter des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR).

Die türkische Regierung kontrolliert weite Teile der Medienlandschaft. Die Opposition habe teilweise unter starkem Druck gestanden. Erdogan hatte die Opposition scharf attackiert und seinen Gegner etwa als „Säufer“ und „Terroristen“ bezeichnet. Die Opposition hielt mit einer positiven Kampagne dagegen. Auch vor der Stichwahl wird Erdogan auf die meisten Medien und die Regierungsmehrheit im Parlament bauen können.

Niedrige Wahlbeteiligung in Bebengebieten

Besorgniserregend sei laut Europarat zudem die niedrige Wahlbeteiligung in den Anfang Februar stark durch Erdbeben zerstörten Regionen. Es habe keine rechtlichen Hindernisse gegeben, aber eine große emotionale Belastung. Offizielle Daten zu der Wahlbeteiligung in den betroffenen Gebieten waren vorerst nicht verfügbar. Laut Anadolu ging Erdogan in sieben der elf betroffenen Provinzen als Sieger hervor. 2018 hatten Menschen in neun der elf Provinzen für ihn gestimmt.

Ringen um Deutungshoheit am Wahlabend

Bereits zu Beginn der Auszählung gab es Zweifel an den von der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen. Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara traten regelmäßig vor die Presse und beschuldigten die Regierung, die Werte von Erdogan zu schönen. Kilicdaroglu warf Erdogans AKP vor, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren. Erdogan warf der Opposition wiederum „Raub des nationalen Willens“ vor.

Anadolu meldete, laut Wahlbehörde sei die Wahlbeteiligung im Inland bei vorläufig 88,92 Prozent und im Ausland bei 52,69 gelegen. Von den wahlberechtigten Türkinnen und Türken in Österreich hätten nach Auszählung von 97,14 Prozent der Wahlurnen knapp 72 Prozent für Erdogan gestimmt.

Erdogan muss sich Stichwahl stellen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan muss sich einer Stichwahl stellen. Erdogan verfehlte in der ersten Runde der Präsidentenwahl die absolute Mehrheit, wie die Wahlbehörde am Montag in Ankara mitteilte. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu lag nach dem vorläufigen Endergebnis knapp hinter Erdogan, womit keiner der beiden Bewerber mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt.

Noch keine Ergebnisse für Parlamentswahl

Die Wahlbehörde gab das Ergebnis der ebenfalls am Sonntag abgehaltenen Parlamentswahl zunächst nicht bekannt. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Erdogans Regierungsallianz ihre Mehrheit verteidigen konnte. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.

Die Wahl galt als richtungsweisend. Es wird befürchtet, dass das NATO-Land unter weiteren fünf Jahren Erdogan noch autokratischer werden könnte. Der 74-jährige Kilicdaroglu ist Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System sowie zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch international wurde die Wahl aufmerksam beobachtet. Eine neue Regierung hätte Auswirkungen auf Konflikte in der Region wie den Syrien-Krieg und auch auf das Verhältnis zur EU.

Auch wenn Erdogan in zwei Wochen noch immer gewinnen kann – für den 69-Jährigen ist das Ergebnis ein Rückschlag. In seinen 20 Jahren an der Macht hat er bisher jede landesweite Wahl gewonnen. 2003 wurde er zunächst Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. Die Aura des Unbesiegbaren geht ihm durch diese Stichwahl verloren. Erdogan zeigte sich in der Nacht auf Montag dennoch gut gelaunt vor jubelnden Anhängern in Ankara und stimmte ein Lied an.

Opposition gibt sich zuversichtlich

Kilicdaroglu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechserbündnisses vor die Presse. „Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte“, sagte er. Alle Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert – es ist nicht nur die erste Stichwahl für Erdogan, sondern auch für Herausforderer Kilicdaroglu – und für die Bürger. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.

ORF-Korrespondentin Wagner zur Türkei-Wahl

Zieht Erdogans Rezept aus Nationalismus und starkem Religionsbezug immer noch – oder war die Opposition schwächer als von vielen angenommen? ORF-Korrespondentin Katharina Wagner berichtet.

Parlamentsergebnis als wichtiger Faktor

Alle Augen richten sich auf die Große Nationalversammlung in Ankara. Erdogans islamisch-konservative AKP und ihr ultranationalistischer Partner MHP werden dort ihre absolute Mehrheit voraussichtlich halten können. Erdogan kann in dem Fall vor der Stichwahl mit der Gefahr einer Regierungskrise argumentieren. Und er machte das prompt schon in der Nacht auf Montag. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl „Sicherheit und Stabilität“ bevorzugten, sagte er.

Erdogan spielte darauf an, dass einander Parlament und Präsident theoretisch blockieren könnten, sollte die Mehrheit der Abgeordneten an die Regierungsallianz fallen, das Präsidentenamt aber an die Opposition oder umgekehrt. Zwar kann der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret erlassen, verabschiedet das Parlament aber ein Gesetz zum selben Thema, würde das Dekret ungültig. Es kommen in jedem Fall schwierige zwei Wochen auf die Türkei zu. Die Landeswährung Lira könnte durch die unsichere Situation weiter an Wert verlieren.

Wer was verspricht

Erdogan wirbt vor allem mit Wahlgeschenken wie der Erhöhung von Beamtengehältern und Großprojekten in Infrastruktur und Rüstungsindustrie. Kilicdaroglu verspricht, Korruption und Inflation zu bekämpfen und das Land zu demokratisieren. In der Migrationsfrage schlägt er einen nationalistischen Ton an. Die rund 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien will er zurückschicken und das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln. Insgesamt waren rund 64 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen, davon rund 3,4 Millionen im Ausland.