Menschen vor dem Dizengoff-Brunnen in Tel Aviv
IMAGO/NurPhoto/Beata Zawrzel
Mit 75

Israel auf der Suche nach seiner Zukunft

75 Jahre ist Israel heuer eben erst geworden – und das Jubiläum fällt mitten in eine der turbulentesten Phasen dieses an Turbulenzen nicht gerade armen Staates. Was von außen aber vor allem als innenpolitische Krise oder Machtkampf wahrgenommen wird, ist für Israelis selbst mindestens ebenso sehr eine mit existenzieller Leidenschaft und auf vielen Ebenen gleichzeitig geführte gesellschaftliche Debatte über das künftige Zusammenleben.

Das machte eine Diskussion in Wien mit einer Vertreterin der Linken und einem der Rechten sowie dem Soziologen Natan Sznaider sichtbar. Sehr rasch zeigte sich Dienstagabend selbst im gemächlich anmutenden Ambiente der Wiener Diplomatischen Akademie, dass die Visionen davon, was und wie Israel sein soll, kaum divergierender sein könnten. Der Historiker Mitchell Ash moderierte die vom Center of Israel Studies und dem progressiven New Israel Fund organisierte Diskussion.

Es gehe in der aktuellen Debatte und dem von der rechts-religiösen Regierung geplanten Justizumbau, gegen den seit Monaten Hunderttausende auf die Straße gehen, nicht zuletzt darum, was mit Demokratie gemeint sei und ob Israels Definition als Nationalstaat des jüdischen Volkes mit jener als Demokratie letztlich vereinbar sei. Im aktuellen Konflikt würden zwei unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie aufeinanderstoßen.

Proteste gegen Justizreform in Tel Aviv
Reuters/Ilan Rosenberg
Seit Monaten demonstrieren landesweit Menschen gegen eine Schwächung der Justiz

Mehrheit soll bestimmen

Sagi Barmak von der Hebräischen Universität in Jerusalem und nach eigener Bezeichnung Libertärer und politisch rechts stehend, machte gleich zu Beginn klar, wie er Demokratie definiert: Die Mehrheit bestimmt die Regeln. Wenn sich die Mehrheit ändere, könne diese die Regeln ihrerseits wieder ändern. Das seien die Spielregeln der Demokratie. Die Macht müsse bei der Knesset, dem Parlament, liegen.

Tatsächlich habe das Höchstgericht Mitte der 1990er Jahre aber mit der Ausweitung der Zuständigkeit der Gerichte und insbesondere seiner Entscheidung, Gesetze aufheben zu können, wenn sie gegen Grundrechte wie Gleichheit, Recht auf Arbeit und Meinungsfreiheit verstoßen, zu viel Macht an sich gerissen.

14. Mai 1948

An diesem Tag verlas David Ben-Gurion – unter einem Bildnis von Theodor Herzl stehend – feierlich die Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel. Wenige Jahre nach der Schoah wurde damit Herzls Vision vom Staat der Jüdinnen und Juden Realität.

„Angst vor gut bekanntem Geheimnis“

Dem widersprach Orly Noy von der israelischen NGO B’Tselem, die regelmäßig Menschenrechtsverstöße der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten aufzeigt und diese dafür scharf kritisiert. Sie steht für das – beispielsweise auch in der EU verankerte Prinzip – dass Demokratie immer auch den Schutz von Minderheiten beinhalten muss. Noy kritisierte aber ihrerseits ebenfalls die Demokratiebewegung.

Ihrer Ansicht nach besteht das Grundproblem in der israelischen Besatzung in Ostjerusalem und dem Westjordanland. Aber das Gros jener Hunderttausender Menschen, die derzeit regelmäßig auf die Straße gehen, habe große Angst und scheue eine „Diskussion über ein gut bekanntes Geheimnis, nämlich die jüdische Vormachtstellung“. Daher würden israelische Palästinenserinnen und Palästinenser auch kaum an den Protesten teilnehmen.

Schlachtruf „Demokratie“

Dass die das Protestlager einende Parole „Demokratie“ nicht genau definiert werde, sei aber eine bewusste Entscheidung und helfe, viel mehr Menschen zu mobilisieren, warf Ash ein.

Wissen, was man nicht will, reicht nicht

Das stimme, räumte Noy ein, doch sie warnte davor, dass man ohne Debatte und Entscheidungen in den zentralen Fragen nicht weiterkommen werde. Schon vor zwei Jahren habe es monatelang Großdemos gegen den damaligen und nunmehrigen Regierungschef Benjamin Netanjahu gegeben. Auch damals sei man sich nur einig gewesen, was man nicht wolle – einen der Korruption angeklagten Ministerpräsidenten. Das Ziel habe man damals erreicht.

Weil man aber die Ziele nur negativ definiert habe, habe man eine Regierung bekommen, die aus völlig gegensätzlichen Parteien bestanden und keinerlei gemeinsame Grundlage gehabt habe. Und die Regierung von Naftali Bennett und Jair Lapid sei besonders hart gegen Palästinenser vorgegangen und habe sich schließlich selbst zu Fall gebracht – wegen der Verlängerung von Notverordnungen für das Westjordanland, die de facto die Besatzung regeln.

Israelisches Höchstgericht in Jerusalem
Getty Images/Gal Productions
Das Höchstgericht steht im Zentrum des Streits um das Verhältnis von Legislative, Exekutive und Judikative

Ein oder kein Zusammenhang

Barmak widersprach heftig: Das eine – die „Justizreform“ – habe mit dem anderen, dem israelisch-palästinensischen Konflikt, rein gar nichts zu tun. Er warf dem Protestlager vielmehr vor, nur deshalb gegen eine Justizreform zu sein, weil die eigenen Parteien die Macht verloren hätten und die linken „Eliten“ das nicht hinnehmen wollten. Sie wollten daher ein mächtiges Höchstgericht, das Gesetze aufheben könne, wiederholte er eine von Rechten häufig vorgebrachte Vermutung.

Und Barmak warf dem Protestlager ebenfalls vor, kurzsichtig zu handeln. Denn, was mache man, wenn die Mehrheit der Richterinnen und Richter künftig rechtsgerichtet sein sollte, so seine rhetorische Frage.

Noy wies ihrerseits Barmak darauf hin, dass das Höchstgericht israelischen Regierungen in Sachen Besatzung ohnehin praktisch immer grünes Licht gegeben habe. Zumindest bei der Sicherung von Individualrechten aber sei das Höchstgericht für Palästinenserinnen und Palästinenser ein „dünner Schutzschild“. Diese Funktion würde es mit den Gesetzesänderungen verlieren.

Plädoyer für ständiges Neuverhandeln der Gegensätze

Der Soziologe Sznaider versuchte angesichts dieser völlig konträren Positionen, einen Mittelweg aufzuzeigen. „Beide haben recht, und ich habe auch recht“, so der Tel Aviver Soziologe so apodiktisch wie aphoristisch. Um gleich wieder ernst zu werden: Alle drei hätten ihre berechtigten Anliegen. Und es gebe keine einfache und keine endgültige Auflösung. „Du musst ständig zwischen den Polen leben“ und das bedürfe eines ständigen Neuverhandelns in Gesellschaft und Politik, plädierte Sznaider für ein Oszillieren zwischen den Polen eines jüdischen und eines demokratischen Staates, auch wenn das „sehr anstrengend“ sei.

Israel sei nie eine liberale Demokratie gewesen, betonte Sznaider. Doch das werde kompensiert, weil die Gesellschaft unglaublich divers und lebendig sei. Manche würden in Israel von einer „ethnischen Demokratie“ oder sogar einer „Ethnokratie“ sprechen. Doch man müsse auch anerkennen, dass eine Mehrheit der Israelis und Israelinnen wolle, dass der Staat einen jüdischen Charakter habe. Viele im Protestlager fühlten sich eher von dem revolutionären Eifer der Rechten bedroht, so Sznaider in Richtung Barmak.

Zu Noy gewandt wiederum meinte Sznaider, was es denn bringe, einen Standpunkt moralischer Gerechtigkeit einzunehmen, wenn dabei niemand mitgehe. Politik sei hier die Kunst, das Machbare auszuloten, plädierte Sznaider für die Annäherung an eine „pragmatischere Illusion“.

Einigkeit in einem Punkt

Was das freilich für die Palästinenser bedeutet, darauf ging Sznaider nicht näher ein. Völlig klar ist für Barmak, Noy und Sznaider freilich, dass die Idee der Zweistaatenlösung tot ist. In Israel und unter den Palästinenserinnen und Palästinensern in der Westbank ist das angesichts der vielen jüdischen Siedlungen im Westjordanland seit Jahren tatsächlich praktisch unumstritten. Und das war letztlich fast der einzige Punkt, in dem alle übereinstimmten.

„Weltjournal“: 75 Jahre Israel – Hoffnung und Konflikte

Israel feiert den 75. Jahrestag seiner Staatsgründung. ORF-Korrespondent Tim Cupal fragt für das „Weltjournal“ nach, was aus den Hoffnungen der Staatsgründer von einst geworden ist – bei jüdischen Holocaust-Überlebenden, die den Staat mit aufgebaut haben; bei jungen Israeli, die darüber nachdenken, diesen Staat wieder zu verlassen; bei nationalreligiösen jüdischen Siedlern, bei israelischen Arabern und Palästinensern im Westjordanland, bei jüdischen Israeli, religiös und weltlich, und bei Menschen, die seit Jahresanfang Woche für Woche auf die Straße gehen, um – wie sie selbst sagen – die Demokratie in Israel zu retten.

Fortschritte bei Verhandlungen

Zeitgleich zur Debatte in Wien liefen in Jerusalem die von Staatspräsident Jizchak Herzog geleiteten Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition über grundlegende Änderungen im Justizbereich weiter. Dabei, so hieß es am Mittwoch in Israels öffentlich-rechtlichem Sender Kan, sei in zwei wichtigen Punkten weitgehendes Einverständnis hergestellt worden.