Demonstranten halten Türkei-Flaggen in Istanbul
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Historische Stichwahl

Erdogan greift nach weiterer Amtszeit

Am Sonntag wird in der Türkei ein neuer Präsident gewählt. Im ersten Wahlgang verfehlte der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan die absolute Mehrheit, nun muss er nach 20 Jahren erstmals in einer Stichwahl wieder um Macht bangen. Sein Gegner: der Sozialdemokrat Kemal Kilicdaroglu. Auch wenn der Ausgang offen ist, braucht Kilicdaroglu laut Expertinnen und Experten ein „Wunder“, um sich durchzusetzen.

Kommentatorinnen und Kommentatoren sehen einen historischen Kampf um einen Richtungswechsel im Land. Und die Bedeutung der türkischen Präsidentwahl gehe „weit über die Türkei heraus“, so Cengiz Günay, Direktor des Österreichischen Instituts für internationale Politik (oiip), in Wien. Die Wahl sei nicht nur bedeutend, weil „Erdogan nach 20 Jahren Regime das erste Mal bedroht ist, tatsächlich abgewählt zu werden“, sondern auch weil die Türkei ein „kompetitiv autoritäres Regime“ sei, in dem die Wahlergebnisse eigentlich vorherzusehen seien.

Die Bedeutung der Wahl zeigte sich auch an der Wahlbeteiligung, noch nie in der Geschichte der Türkei war sie so hoch. Sowohl im Inland als auch im Ausland lag sie im ersten Wahlgang bei über 90 Prozent. Bei der Stichwahl zeichnete sich eine noch höhere Wahlbeteiligung ab: Allein in Österreich, wo bereits gewählt wurde, gaben 60,47 Prozent der 112.000 Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Das waren 4,3 Prozent mehr als in der ersten Wahlrunde, so die Türkische Botschaft in Wien.

Stichwahl in der Türkei am Sonntag

Am Sonntag entscheiden rund 64 Millionen Wahlberechtigte innerhalb und außerhalb der Türkei, wer künftig das Land führen wird. Im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen verpasste Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan die 50 Prozent knapp und muss nun in die Stichwahl gegen den Herausforderer der Opposition, Kemal Kilicdaroglu, der deutlicher als erwartet hinter ihm lag.

Stichwahl schon Erfolg für Opposition

Keiner der drei Kandidaten erreichte die entscheidende Mehrheit im ersten Wahlgang. Erdogan kam auf 49,5 Prozent der Stimmen, Kilicdaroglu auf 44,9 Prozent. In einem Regime wie in der Türkei sei das aber ein großer Erfolg, so Günay bei einem Gespräch im Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog. Denn keiner der Oppositionskandidaten habe die gleichen Ressourcen wie der Amtsinhaber – die Wahl sei daher von Anfang an nie fair gewesen.

Oppositionskandidat Kilicdaroglu und Anhänger mit Blumen
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Kilicdaroglu besuchte das Mausoleum des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk vor den Wahlen

Vor allem die systematisch auf Regierungslinie gebrachten Medien seien ein wichtiges Instrument um die Stichwahl am Sonntag zu gewinnen, so Günay. Denn die Opposition komme kaum in den Medien vor, und wenn, dann sei sie negativ dargestellt. Sie habe damit nur unter „unmenschlichem Einsatz“ die Chance zu gewinnen.

Unfairer Wahlkampf

So hatte Erdogan im Wahlkampf Medien dazu benutzt, die Opposition so darzustellen, als unterstütze sie „Terroristen“. Der linken prokurdischen Partei HDP wirft er vor, der verstärkte Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Er zeigte dafür sogar ein manipuliertes Wahlkampfvideo, in dem ein Mitglied der PKK ein Wahlkampflied Kilicdaroglus anstimmte. Nach dem ersten Wahlgang gab Erdogan zu, dass das Video manipuliert gewesen war.

Erdogan mit Sonnenbrille auf Wahlplakat
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Überall in den Städten hängen Bilder von Erdogan

Die Opposition legte daraufhin eine Beschwerde gegen ein Wahlkampfvideo von Erdogan ein und klagte ihn auf 50.000 Dollar (rund 46.000 Euro). Die Regierungspropaganda von Erdogans Partei AKP kommt aber trotzdem an, wie viele weitere Beispiele zeigen. Und weder die verheerende wirtschaftliche Lage im Land noch Erdogans scharf kritisiertes, zu langsames Krisenmanagement nach dem Erdbeben vom 6. Februar mit 50.000 Toten konnte eine Mehrheit der Wahlberechtigten davon abhalten, wieder für den islamisch-konservativen Staatschef zu stimmen.

Für Sieg von Kilicdaroglu „Wunder“ nötig

Experten und Expertinnen sehen wenige Chancen, dass sich Kilicdaroglu, der alevitische Parteichef der kemalistisch-sozialdemokratischen Partei CHP, am Sonntag durchsetzen kann. Für den Oppositionspolitiker, der ein Bündnis von sechs Parteien anführt, sei ein „Wunder“ nötig, um zu gewinnen, heißt es in einer Analyse der Nachrichtenagentur AFP. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass der mit fünf Prozent der Stimmen drittplatzierte Kandidat, der Nationalist Sinan Ogan, ankündigte, bei der Stichwahl Erdogan zu unterstützen.

Oppositionskandidat Kilicdaroglu hält Rede
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Kilicdaroglu auf einer Pressekonferenz nach dem ersten Wahlgang

Kilicdaroglu setzte deshalb vor der zweiten Wahlrunde auf eine flüchtlingsfeindliche Rhetorik, um nationalistische Stimmen zu gewinnen: „Sobald ich an die Regierung komme, werde ich alle Geflüchteten nach Hause schicken. Punkt“, sagte Kilicdaroglu und sprach von zehn Millionen Menschen – allen voran Geflüchtete aus Syrien – im Land. Zudem verbündete er sich mit der Rechtsaußenpartei Zafer Partisi, die bei der zeitgleich mit der Präsidentenkür stattgefundenen Parlamentswahl 2,3 Prozent der Stimmen erreicht hatte.

Linke HDP unterstützt Kilicdaroglu dennoch

Dadurch sorgte er nicht nur international für Kritik. Auch in der Türkei glauben Wahlbeobachter und Wahlbeobachterinnen, dass er dadurch Wählerstimmen verloren haben könnte – wie etwa jene der kurdischen Minderheiten. Die linke prokurdische HDP versprach jedoch in einer Pressekonferenz, Kilicdaroglu weiterhin zu unterstützen. Um die Kurdenproblematik zu lösen, müsse zuerst die Demokratie ins Land zurückkehren. „Erdogan ist niemals eine Option für uns. Und die einzige Option ist, ihn und die Macht, die er repräsentiert, zu verändern“, so die HDP-Kovorsitzende Pervin Buldan.

Kreml hofft auf Erdogans Sieg

Nicht nur für die Türkei ist die Präsidentschaftswahl am Sonntag richtungsweisend. Der Ausgang der Stichwahl hat auch für Russland gewichtige Auswirkungen, etwa für die Auseinandersetzung Moskaus mit der NATO. Beobachter sind sich einig: Der Kreml hofft auf einen Sieg des langjährigen Staatschefs Erdogan. Denn nur er garantiere den Fortbestand der engen russisch-türkischen Beziehungen. Für den Kreml ist Erdogan eine bekannte Größe, seit 20 Jahren arbeitet er mit dem russischen Staatschef Wladimir Putin zusammen. Kilicdaroglu hingegen beschuldigt Moskau, sich in die Wahl in der Türkei eingemischt zu haben.