Präsidentschaftswahlkandidaten in Istanbul
Reuters/Hannah Mckay
Appelle noch am Wahltag

Spannung bei Stichwahl in der Türkei

Hochspannung in der Türkei: Im Rennen um das Präsidentenamt in der Türkei treten Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan und Herausforderer Kemal Kilicdaroglu am Sonntag in einer Stichwahl gegeneinander an. Erdogan gilt als Favorit. Er hatte bei der ersten Runde vor zwei Wochen die meisten Stimmen erhalten, verpasste die nötige absolute Mehrheit aber knapp. Beide Kandidaten wandten sich am Sonntag noch einmal mit Appellen an die Wählerinnen und Wähler.

Kilicdaroglu forderte seine Mitbürgerinnen und Mitbürger bei der Stichwahl auf, die „autoritäre“ Herrschaft von Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan zu beenden. „Damit echte Demokratie und Freiheit hier Einzug halten, damit wir uns von einer autoritären Regierung befreien, rufe ich die Bürger zur Wahl auf“, sagte Kilicdaroglu am Sonntag, als er in Ankara seine Stimme bei der Stichwahl um das Präsidentenamt abgab.

Der 74-Jährige rief außerdem dazu auf, die Wahlurnen auch nach der Schließung der Wahllokale gut im Auge zu behalten. Schließlich sei die Präsidentschaftswahl „unter schwierigen Bedingungen abgehalten“ worden. „Jede Art von Verunglimpfung und Verleumdung ist laut geworden, aber ich vertraue in den gesunden Menschenverstand der Bürger“, sagte Kilicdaroglu vor zahlreichen Anhängern vor dem Wahllokal. „Die Demokratie kommt ganz gewiss in diesem Land, die Freiheit wird kommen.“

Stichwahl in der Türkei

Am Sonntag wird in der Türkei ein neuer Präsident gewählt. Im ersten Wahlgang verfehlte der Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan die absolute Mehrheit, nun muss er nach 20 Jahren erstmals in einer Stichwahl wieder um Macht bangen. Sein Gegner: der Sozialdemokrat Kemal Kilicdaroglu. Auch wenn der Ausgang offen ist, braucht Kilicdaroglu laut Expertinnen und Experten ein „Wunder“, um sich durchzusetzen.

Erdogan lobt hohe Beteiligung

Erdogan gab seine Stimme am Sonntag mit seiner Frau Emine in einem Wahllokal in Üsküdar, einem Viertel im asiatischen Teil Istanbuls, ab. Dabei rief er zu reger Beteiligung an dem Urnengang auf. „In keinem Land der Welt gibt es eine Wahlbeteiligung von 90 Prozent“, sagte er. „Die Türkei hat sie fast erreicht. Ich rufe meine Mitbürger auf, nicht nachzulassen und zur Wahl zu gehen.“ Bei der ersten Wahlrunde am 14. Mai hatten 87 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben. Tatsächlich wird nun mit einer noch höheren Beteiligung gerechnet.

Früheres Ergebnis versprochen

Die Ergebnisse der Stichwahl sollen früher verfügbar sein als die Ergebnisse der ersten Runde. Weil es nur eine Abstimmung mit zwei Kandidaten sei, werde die Auszählung voraussichtlich schneller gehen, erklärte der Leiter der türkischen Wahlbehörde, Ahmet Yener, am Sonntagvormittag. Eine Zeit nannte er nicht. Die Abstimmung laufe bisher störungsfrei ab, so Yener. Die Wahllokale schlossen um 16.00 Uhr. An sich darf offiziell erst ab 20.00 Uhr über Ergebnisse berichtet werden. Die Wahlkommission hat diese Regel in der Vergangenheit aber meist außer Kraft gesetzt und eine frühere Berichterstattung zugelassen.

Nach der ersten Abstimmung am 14. Mai hatten sowohl die Staatsagentur Anadolu als auch die oppositionsnahe Agentur Anka bereits am Abend gemeldet, dass es in eine zweite Runde gehen würde. Die Wahlbehörde verkündete ihr vorläufiges Endergebnis allerdings erst gegen Mittag am Folgetag. In der ersten Runde hatten die rund 61 Millionen Wahlberechtigten in der Türkei auch ihre Stimme für ein neues Parlament abgegeben, was die Auszählung verlangsamte.

Wagner (ORF) zur Stichwahl in der Türkei

ORF-Korrespondentin Katharina Wagner analysiert die Stichwahl um die Präsidentschaft in der Türkei.

Angriff auf Wahlbeobachter gemeldet

Die größte Oppositionspartei CHP beklagte indes im Südosten des Landes einen Angriff auf ihre Wahlbeobachter. In der Provinz Sanliurfa seien die Wahlbeobachter der Partei geschlagen und ihre Telefone zerstört worden, weil sie gegen Unregelmäßigkeiten Einspruch erhoben hätten, schrieb der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Özgür Özel am Sonntag auf Twitter. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden. Özel kritisierte zudem, dass nicht genügend Sicherheitskräfte präsent seien und forderte die Behörden auf, für die Sicherheit der Wahl zu sorgen.

Auch in Istanbul gab es Medienberichten zufolge mehrere Vorfälle. Halk TV berichtete, dass in den Bezirken Gaziosmanpasa und Ümraniye Wahlhelfer der Opposition angegriffen worden seien. Das Onlinemedium Senika.org schrieb, dass an einer Schule im Bezirk Bagcilar Anwälte nicht in die Wahllokale gelassen wurden. Dabei sei es zu Auseinandersetzungen gekommen. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.

Aufkeimender Nationalismus

Die Wahl gilt als richtungsweisend. Erdogan ist seit 20 Jahren an der Macht. Seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 hat er so viel Macht wie nie zuvor. Kritiker befürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnern vollends in die Autokratie abgleiten könnte, sollte er erneut gewinnen.

Kilicdaroglu ist Chef der sozialdemokratischen Partei CHP und tritt für eine Allianz aus sechs Parteien unterschiedlicher Lager an. Er verspricht, das Land zu demokratisieren. Allerdings schlug er zuletzt nationalistische Töne an. Er machte die Rückführung von Flüchtlingen nach Syrien zu seinem Hauptwahlkampfthema und verschärfte seinen Ton gegenüber der ersten Runde deutlich. Hintergrund ist, dass er versucht, die Stimmen des Drittplatzierten des ersten Wahlgangs, Rechtsaußenkandidat Sinan Ogan, einzusammeln. Ob das gelingen kann, ist aber unklar.

Jahrestag der Gezi-Proteste

Die Abstimmung fällt auf ein für die Opposition symbolisches Datum: Am Sonntag jähren sich auch die regierungskritischen Gezi-Proteste zum zehnten Mal. Die Demonstrationen im Frühjahr 2013 hatten sich zunächst gegen die Bebauung des zentralen Istanbuler Gezi-Parks gerichtet. Sie weiteten sich zu landesweiten Demonstrationen gegen die immer autoritärere Politik Erdogans aus, der damals noch Ministerpräsident war. Dieser ließ die weitestgehend friedlichen Proteste brutal niederschlagen.