EU-Parlament von außen
Reuters/Yves Herman
Ratsvorsitz

EU-Parlament setzt Zeichen gegen Ungarn

Ungarn soll im Juli 2024 den EU-Ratsvorsitz übernehmen – zugleich blockiert die EU mehrere Milliarden Euro für das Land. Grund dafür sind rechtsstaatliche Bedenken. Viele EU-Parlamentarier orten einen Widerspruch. Im Zuge einer Abstimmung sprach deshalb das Europäische Parlament am Donnerstag Ungarn die Eignung für die EU-Ratspräsidentschaft ab.

442 von 619 Abgeordneten stimmten zu Mittag einer Resolution zu, die die Fähigkeit Ungarns, Mitte 2024 den EU-Ratsvorsitz zu übernehmen, anzweifelt. 144 Abgeordnete waren dagegen, 33 enthielten sich. Die Resolution hat keine rechtlichen Auswirkungen. Sie soll laut Parlament aber ein Signal setzen.

Europäische Volkspartei (EVP), Sozialdemokraten (S&D), Liberale (Renew Europe), Grüne und Linke stimmten mehrheitlich für die Resolution. Österreichs EU-Abgeordnete votierten mit Ausnahme der FPÖ-Abgeordneten dafür. Die EU-Mandatare sehen keine ausreichenden Fortschritte bei Ungarns Problemen mit der Rechtsstaatlichkeit: Sie fordern daher die konsequente Fortführung des laufenden Artikel-7-Verfahrens wegen Verletzungen der Grundrechte.

Ungarn-Ratsvorsitz nach EU-Wahl vorgesehen

Die EU blockiert derzeit rund 30 Mrd. Euro an EU-Geldern, die für Ungarn vorgesehen sind – darunter zwölf Mrd. an Hilfen und begünstigten Krediten aus dem CoV-Wiederaufbaufonds. Sie begründet das damit, dass Justiz und Aufsichtsorgane im Land von Ministerpräsident Viktor Orban nicht ausreichend unabhängig seien, um eine korrekte Verwendung der EU-Gelder zu gewährleisten.

Die EU-Zahlungen hängen von der Lösung der Rechtsstaatlichkeitsprobleme ab, so Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn. Ungarn blockierte in den vergangenen Monaten zudem immer wieder große EU-Entscheidungen – etwa Hilfen für die Ukraine.

Das Parlament stellt infrage, ob Ungarn vor diesem Hintergrund der richtige Ratsvorsitz sei. Der Ratsvorsitz müsse die Arbeit des Rates zu den EU-Rechtsvorschriften voranbringen, die Kontinuität der EU-Agenda sicherstellen und den Rat in den Beziehungen zu den anderen EU-Organen vertreten.

Ungarn würde den Ratsvorsitz zu einem entscheidenden Zeitpunkt, nämlich kurz nach der EU-Wahl im Juni 2024, übernehmen. In einer Aussendung betonte das Parlament, mit der Annahme dieser Entschließung auf die Erwartungen der Bürger zu reagieren. „Einmal mehr bringt das Europäische Parlament einhellig seine tiefe Besorgnis über die Verschlechterung der rechtsstaatlichen Situation in Ungarn zum Ausdruck“, kommentierte die ständige Berichterstatterin des Parlaments für Ungarn, die Grüne Gwendoline Delbos-Corfield.

Aufruf zu Boykott der EU-Ratspräsidentschaft

„Wie lange kann ein Artikel-7-Verfahren laufen? Zehn, 15 Jahre?“, sagte Delbos-Corfield zuvor am Mittwoch. Sollte die EU nicht tätig werden, appelliere sie an die neuen EU-Abgeordneten, die gleichzeitig mit den Ungarn am 1. Juli 2024 starten würden, den Ratsvorsitz zu boykottieren. „Ungarn wird sechs Monate das Schicksal der EU bestimmen. Ungarn ist keine Demokratie mehr“, so auch die luxemburgische Schatten-Berichterstatterin Isabel Wiseler-Lima (EVP). Vom Rat verlangte sie eine Lösung. „Der Rat hat eine viel größere Handlungsfähigkeit als wir.“

In der Resolution wird „so rasch wie möglich eine angemessene Lösung“ gefordert. In den EU-Verträgen ist nicht vorgesehen, einem Land die turnusmäßige Ratspräsidentschaft abzuerkennen. Vor Ungarn sind noch Spanien (ab Juli) und Belgien (ab Jänner 2024) am Zug. Auf Ungarn soll mit Polen (ab Jänner 2025) ein weiteres Sorgenland der EU folgen.

Ungarns Premierminister Viktor Orban
AP/Vadim Ghirda
Ministerpräsident Viktor Orban werden mangelnde Fortschritte in puncto Rechtsstaatlichkeit vorgeworfen

„Starkes politisches Signal des Parlaments“

SPÖ-EU-Delegationsleiter Andreas Schieder sah mit dem Anstoß der Debatte ein Ziel erreicht und sagte am Mittwoch im Gespräch mit Journalistinnen und Journalisten, dass dem EU-Parlament nach der im Juni 2024 erfolgenden Wahl eine Schlüsselrolle bei der Wahl der nächsten Kommission zukomme. Es bestünden daher sehr wohl politische Druckmittel.

„Der Rat sollte den ungarischen Ratsvorsitz suspendieren, bis Demokratie und Grundrechte wieder geschützt sind und die sachgemäße Verwendung von EU-Mitteln garantiert werden kann“, sagte SPÖ-EU-Abgeordnete Theresa Bielowski.

Ungarn müsse wieder „auf den Boden der Rechtsstaatlichkeit“ zurückkehren, sagte EU-ÖVP-Delegationsleiterin Angelika Winzig der APA. „Wir werden keine gemeinsamen EU-Gelder freigeben, wenn die vorgegebenen Meilensteine nicht erreicht werden. Eine Verschiebung der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft, ein Detailaspekt dieser Resolution, trägt nicht dazu bei, die Lage für die ungarische Bevölkerung zu verbessern“, so Winzig.

„Inside Brüssel“: Debatte über ungarischen EU-Ratsvorsitz

Das Europäische Parlament fordert mit großer Mehrheit eine Aussetzung der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft. Othmar Karas, erster Vizepräsident und ÖVP-EU-Abgeordneter, sowie Harald Vilimsky, FPÖ-EU-Abgeordneter, diskutieren in der ORF-Sendung „Inside Brüssel“.

Vorhaben für Edtstadler „kontraproduktiv“

EU-Länder und Kommission reagierten bisher eher zurückhaltend auf das Vorhaben des Parlaments. Österreichs Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) kritisierte den Vorstoß. Der EU-Vertrag gebe „klar vor, dass der Ratsvorsitz nach einem gleichberechtigten Turnus rotiert“, so Edtstadler. „Gerade vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs ist es kontraproduktiv, mit solch vertragswidrigen Forderungen die EU intern zu spalten.“ Ungarn zeige Bewegung bei der Rechtsstaatlichkeit.

Deutschlands Europastaatsministerin Anna Lührmann (Grüne) sagte lediglich, sie habe Zweifel, wie Ungarn eine erfolgreiche Ratspräsidentschaft gelingen könne. EU-Justizkommissar Didier Reynders versicherte bei der Debatte im EU-Parlament, dass sich die Kommission weiterhin uneingeschränkt für die Wahrung des Rechtsstaats in Ungarn einsetze. Die Regierung in Ungarn sprach im Vorfeld der Abstimmung von einer „antiungarischen Initiative“.

Europarechtsexperten skeptisch

Tatsächlich wird die Resolution von Fachleuten vor allem als symbolisches Signal gewertet. Für den Europarechtsexperten Walter Obwexer ist ein Beschluss „nur von politischer, nicht von rechtlicher Relevanz“, wie er der APA sagte. Durch eine Geschäftsordnungsautonomie der Organe habe das Parlament im Grunde keine Möglichkeit, in den Ratsvorsitz einzugreifen, so der Universitätsprofessor für Europarecht, Völkerrecht und Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck.

Der Ball für die Umsetzung allfälliger Bedenken liegt im Rat, so Obwexer. Dabei könnte theoretisch das 2009 eingeführte Modell der „Teampräsidentschaft“ von großem Nutzen sein. Denn Ungarn bildet von 1. Juli 2023 bis 31. Dezember 2024 mit Spanien und Belgien ein Dreierteam, Polen bildet von 1. Jänner 2025 bis 30. Juni 2026 mit Dänemark und Zypern ein Trio. Die Teams erstellen jeweils ein gemeinsames Arbeitsprogramm für 18 Monate.

„Ein Abweichen von dieser Regelung im Team ist zwar möglich, allerdings nur einvernehmlich“, so Obwexer. „So könnten Ungarn und Polen jene Agenden, die mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit verbunden sind, einem anderen Mitgliedstaat der Teampräsidentschaft übertragen, müssten diese Änderung in der Arbeitsverteilung aber selbst initiieren oder dem zumindest zustimmen. Dies scheint wohl nur wenig realistisch zu sein.“

Geänderte Reihenfolge der Vorsitzübernahme als Option?

Auch John Morijn vom Meijers-Komitee, einer unabhängigen juristischen Expertengruppe mit Sitz in Amsterdam, hält diese Option für „wahrscheinlich nicht praktikabel“, wie er dem Magazin „Politico“ sagte. Als gesichtswahrende Möglichkeit könne sie aber dann attraktiv werden, wenn härtere Geschütze glaubwürdig in Stellung gebracht worden seien. Welche das sein könnten, führt das Meijers-Komitee in einem 13-seitigen Papier aus.

So könnte der Rat die Reihenfolge der Vorsitzübernahme ändern, was er – meist nach neuen EU-Beitritten – in der Vergangenheit auch sechsmal getan habe. Dafür wäre eine qualifizierte Mehrheit (55 Prozent der Mitgliedsstaaten – derzeit also mindestens 15 –, die gleichzeitig zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen) notwendig, so Obwexer. „Dabei müsste aber die Gleichbehandlung aller Mitgliedsstaaten beachtet werden. Eine Verschiebung des Vorsitzes im Rat betreffend Ungarn und Polen würde das ‚Rechtsstaatlichkeitsproblem‘ allerdings wohl nur verschieben, aber nicht lösen.“

Vorsitzsuspendierung für Obwexer „nicht rechtskonform“

Eine dritte Option, nämlich die mit der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit begründete Suspendierung des Ratsvorsitzes von Ungarn und Polen, hält Obwexer jedoch für „nicht rechtskonform“. Nach dem in Artikel 7 des EU-Vertrags geregelten Sanktionsverfahren müsse der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte durch einen dieser Mitgliedsstaaten vorliegt. Erst dann könne der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte wie das Recht auf Vorsitzführung im Rat auszusetzen.

„Der Europäische Rat hat bislang jedoch keinen Beschluss erlassen, mit dem eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung von Werten der Union (insbesondere der Rechtsstaatlichkeit) durch Ungarn und/oder Polen festgestellt wird. Daher ist eine Aussetzung der Vorsitzführung im Rat derzeit nicht möglich“, hält er fest.