Stromautobahn und Strommasten
ORF.at/Christian Öser
Energiewende

Stromnetz könnte zu „Achillesferse“ werden

Weg von Öl und Gas, hin zu Sonne, Wind und Wasser – bis 2040 will Österreich klimaneutral sein. Bis 2030 soll nur noch Strom aus erneuerbaren Energiequellen durch die heimischen Leitungen fließen. Ein Ziel, das mit der jetzigen Infrastruktur nicht zu erreichen sein wird, sagen Fachleute. „Österreichs Stromnetz ist derzeit nicht ausreichend dimensioniert, um die Energiewende bis dahin zu schaffen“, sagt der technische Vorstand der Austrian Power Grid (APG), Gerhard Christiner. Das Stromnetz könnte zur „Achillesferse“ werden, warnt der Experte.

Teuerungen, der Ukraine-Krieg und nicht zuletzt der Klimaschutzgedanke haben viele in den vergangenen Monaten dazu bewegt, in der haushaltseigenen Energieversorgung einen Schritt Richtung Unabhängigkeit zu gehen. Viele Förderungen von Bund und Ländern für den Ausstieg aus fossilen Energiequellen und Brennstoffen sorgten für zusätzliche Motivation, etwa die bisher ungenutzte Sonnenenergie auf dem eigenen Hausdach in Solarmodulen und Paneelen einzufangen und in nutzbare Energie umzuwandeln. Seit Kriegsbeginn in der Ukraine verdreifachte sich somit die Zahl privater Solaranlagen in Österreich – Tendenz weiter steigend.

Das stellt Stromnetzanbieter vor große Herausforderungen, denn bestehende Verteilnetze sind für den starken Ausbau von erneuerbaren Energiequellen nicht gerüstet. Ausreichend überregionale Leitungen für den Transport des gewonnenen Stroms würden fehlen.

Grafik zeigt APG Stromnetz
Austrian Power Grid

Stromnetz zuverlässig, aber unterdimensioniert

Damit künftig also jeder, der privat Ökostrom produziert und seine Überschüsse ins heimische Netz einspeisen will, genau das auch tun kann, müsse die dafür notwendige Infrastruktur erheblich ausgebaut werden, sagt Christiner.

„Das Stromnetz ist für die Herausforderungen, die wir derzeit auf der Versorgungsseite haben, und für den Umstieg auf erneuerbare Energien, die wir zusätzlich erwarten, nicht ausreichend dimensioniert. Aber die Bedeutung eines versorgungssicheren, stabilen Stromnetzes im Zuge der ganzen Energiewende wurde leider in der Gesellschaft immer noch nicht erkannt. Das Netz erfährt nicht die Bedeutung, die es haben sollte, damit das System problemlos funktioniert“, so der APG-Vorstand.

Grundsätzlich gelte das österreichische Stromnetz aber als sehr sicher und zuverlässig, betont Alfons Haber, Vorstand der Energieregulierungsbehörde E-Control. „Durchschnittlich hat Österreich rund 25 Minuten Stromausfall pro Jahr. Das ist europa- und weltweit ein absoluter Spitzenwert und verschafft auch einen gewissen Standortvorteil“, sagt Haber im ORF-Interview.

Netzstabilität teuer erkauft

Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch der beiden Experten scheint, ist keiner. Denn die heimische Netzstabilität ist teuer erkauft – Stichwort: Redispatch. Dabei handelt es sich um Engpassmaßnahmen bzw. bewusste Eingriffe in die Erzeugungsleistung von Kraftwerken durch die APG, um eine Überlastung des Stromnetzes zu verhindern. Droht an einer bestimmten Stelle im Netz ein Engpass, werden Kraftwerke diesseits des Engpasses angewiesen, ihre Einspeisung zu drosseln, während Anlagen jenseits des Engpasses ihre Einspeiseleistung erhöhen müssen.

„2022 passierte das an 237 Tagen. Dann werden zusätzliche Gaskraftwerke hochgefahren, um drohende Überlastungen im Stromnetz zu verhindern“, so Christiner. Im heurigen Jahr musste von Jänner bis April bereits 72-mal eingegriffen werden, was Kosten von fast 40 Mio. Euro verursachte. Im vergangenen Jahr wurden laut Angaben der APG durch diese Engpassmaßnahmen Kosten in Höhe von 99 Mio. Euro fällig.

„Es braucht ein klares Bekenntnis“

Um die Energiewende im geplanten Zeitraum tatsächlich zu schaffen, gehen beide Experten davon aus, dass es in Österreich rund 45 zusätzliche Umspannwerke und eine Verdoppelung der bereits bestehenden 380-kV-Leitungslänge braucht. „In den kommenden zehn Jahren werden rund 15 Milliarden Euro in den Ausbau der Netze investiert und rund 20 Milliarden in neue sowie bestehende Erzeugungsanlagen“, sagt Haber. Er vermisse aber immer noch ein klares Bekenntnis der Politik zu den geplanten Projekten und Bauvorhaben.

„Der Ausbau beginnt bei den einzelnen Haushalten und regionalen Verteilernetzen und reicht bis zu den überregionalen Stromleitungen samt notwendiger Transformatoren, Leitungen, Umspannwerke und so weiter. Hier ist noch viel zu tun bis 2040“, sagt Haber. Und Christiner ergänzt: „Die EU hat bereits im vergangenen Herbst eine Beschleunigung des Ausbaus gefordert. In Deutschland wurde diese Verordnung recht progressiv umgesetzt, in Österreich fehlt das noch.“

Umweltministerium räumt Versäumnisse ein

Das Umweltministerium räumt Versäumnisse im Ausbau des heimischen Stromnetzes ein, hält aber fest, dass man derzeit an einem Netzinfrastrukturplan arbeite. Dabei sollen alle Aspekte – von der Energiegewinnung über den Transport bis zum Verbrauch – gesamtheitlich erfasst und notwendige Maßnahmen ausgearbeitet werden, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2040 zu erreichen, so das Ministerium.

Gleichzeitig sieht das Ressort von Ministerin Leonore Gewessler (Grüne) aber auch die Länder in der Pflicht: „Viele der Zuständigkeiten liegen hier bei den Ländern“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. In Bezug auf die angesprochene EU-Notfallverordnung sei keine eigenständige Beschlussfassung vorgesehen. „Diese ist bereits gültig und kann von den entsprechenden Behörden, überwiegend auf Landesebene, jederzeit angewandt werden. Auf Bundesebene wurde unabhängig davon die neue Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) beschlossen. Sie bringt auch deutliche Verbesserungen in den Genehmigungsverfahren für den Netzausbau“, so die Antwort aus dem Umweltministerium.

Windkraft bei Ernstbrunn in Niederösterreich
ORF.at/Roland Winkler
Im Jahr 2022 betrug die Zahl der Windkraftanlagen in Österreich insgesamt 1.374.

EU will Verfahren beschleunigen

Das geforderte „Erneuerbaren-Ausbau-Beschleunigungsgesetz“ („EAGB“) soll – entsprechend seinem Namen – den Ausbau von Netzen und erneuerbaren Erzeugeranlagen künftig vereinfachen und beschleunigen. Im vergangenen März präsentierte die EU dazu ihre überarbeiteten „Erneuerbare-Energien-Richtlinien“.

Darin heißt es unter anderem: „Die Nutzung erneuerbarer Energien wird unter Wahrung eines hohen Umweltschutzniveaus als überwiegendes öffentliches Interesse anerkannt. In Regionen mit hohem Potenzial für erneuerbare Energien und geringen Umweltrisiken werden die Mitgliedstaaten spezielle Gebiete für die beschleunigte Nutzung erneuerbarer Energien ausweisen, für die besonders kurze und einfache Genehmigungsverfahren vorgesehen werden.“

Man arbeite an dem Entwurf des „EAGB“, so die Antwort aus dem Umweltministerium, das vor allem Verfahren für die Errichtung kleinerer Kraftwerke vereinfachen soll. Die großen Punkte seien aber bereits mit der Novelle der UVP und der EU-Notfallverordnung in Kraft und gültig. Wann ein Gesetzesentwurf der Regierung vorgelegt werden soll, ist noch unklar – „zeitnah“ heißt es.

Erneuerbare im Osten, Speicher im Westen

Eine wesentliche Maßnahme im Netzausbau ist vor allem das bestehende Ost-West-Gefälle auszugleichen, fordern die Netzbetreiber. Denn die größte Stromproduktion aus Wind- und Solarenergie gibt es derzeit in den östlichen Bundesländern – Niederösterreich, Burgenland und auch in der Oststeiermark. Bei sommerlichen Schönwetterlagen wird dort momentan ein enormer Überschuss an Strom produziert, der sich optimal in den großen Pumpspeicherkraftwerken des Landes speichern ließe.

„Im Gegensatz zu Deutschland bräuchten wir keine teuren, zusätzlichen Batteriespeicheranlagen, denn wir haben die großen Speicherkraftwerke etwa in Kaprun (Salzburg) oder Malta (Kärnten). Die befinden sich aber hunderte Kilometer entfernt. Um den Strom aus erneuerbaren Quellen im Osten also bestmöglich nutzen und speichern zu können, braucht es eine leistungsstarke, stabile Verbindung – sprich Leitungen – in den Westen“, erklärt Haber weiter.

Teil des Kraftwerk in Kaprun
picturedesk.com/EXPA/JFK
Die Stauseen Mooser- und Wasserfallboden der Kraftwerksgruppe Kaprun können mehr als 160 Mio. Kubikmeter Wasser speichern.

Leitungsgegner für mehr „Vor-Ort-Erzeugung“

Doch der Widerstand gegen derartige Ausbauprojekte ist immer wieder groß. Gegner kritisieren vor allem den massiven Eingriff in das Orts- und Landschaftsbild. Der Verein „Fairkabeln“ etwa, der sich gegen den Bau von Freileitungen einsetzt, fordert eine bessere Förderung privater Anlagen für den Eigenbedarf.

„Derzeit wird die Energiewende nur aus Stromkonzernsicht gedacht, aber es gehört vor allem die Vor-Ort-Erzeugung ausgebaut“, sagt Vereinsobmann Franz Fuchsberger, „und dabei auch die Speichermöglichkeit des gewonnenen Stroms im eigenen Haus. Es sollte kein überschüssiger Strom mehr eingespeist werden. Denn das spielt nur den Energiekonzernen in die Hände.“ Werde die Vor-Ort-Erzeugung stärker gefördert, bräuchte es die großen Ausbaumaßnahmen im heimischen Stromnetz nicht, so Fuchsberger. „Wir verteufeln aber nicht grundsätzlich Windparks. Nur wir sollten nicht um jeden Preis riesige Windparks und Solarflächen errichten.“

Es gelte den richtigen Mix aus kleinen und großen Erzeugermodellen zu finden. Statt kilometerlanger Hochspannungsleitungen quer durchs Land setzen sich die „Fairkabler“ außerdem für einen Bau von Erdkabeln ein. Bei diesen wären einerseits die Übertragungsverluste deutlich geringer und andererseits gäbe es keine „hässlichen Freileitungen“.

„Es fehlt der Mut, Dinge umzusetzen“

Der Bau der 380-kV-Leitung in Salzburg etwa verzögerte sich durch zahlreiche Klagen und Gerichtsprozesse um Jahre – von der ersten Projektierung bis zum tatsächlichen Baubeginn vergingen mehr als zehn Jahre. 2019 wurde schließlich mit dem Leitungsausbau begonnen, 2026 soll dort erstmals Strom fließen. Man sei im Zeitplan, heißt es von der APG.

Proteste aus der Bevölkerung auf der einen, generell langwierige Verfahren auf der anderen Seite würden den Ausbau des Stromnetzes nach wie vor stark verzögern. Christiner sieht vor allem die Politik in der Pflicht. „Wir reden in Österreich sehr gerne über das, was zu tun ist, aber wenn es dann darum geht Dinge umzusetzen, fehlt uns der Mut.“

Außerdem gelte es auch als Gesellschaft mehr Weitsicht zu zeigen, fordert der APG-Vorstand. „Wir können nicht sagen: wir wollen eine Energiewende, aber wir wollen keine Leitungen und keine Windräder. Überspitzt gesagt: Es hat wenig Sinn am Freitag für ‚Fridays for Future‘ zu demonstrieren, wenn dann am Wochenende gegen den Ausbau von Windkraft und Netzanlagen protestiert wird. Das wird so nicht funktionieren.“