überschwemmte Straße in Cherson
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Kachowka-Dammbruch

Kein Ende der Überflutungen in Sicht

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms erwarten die ukrainischen Behörden im Gebiet Cherson weiter steigende Wasserstände. Bis Donnerstagvormittag werde das Wasser noch um einen Meter steigen, sagte der Sprecher der Chersoner Militärverwaltung, Olexandr Tolokonnikow, am Mittwoch im ukrainischen Fernsehen. Der Staudamm breche weiter. Etwa 42.000 Menschen seien betroffen, mit gravierenden Schäden für die Umwelt sei zu rechnen. Russland und die Ukraine geben einander die Schuld an der Katastrophe.

In der Stadt Cherson stieg das Wasser laut Behörden um mehr als zwei Meter, die ersten Stockwerke von Gebäuden sind überschwemmt. Die Evakuierung laufe, hieß es. Teils waren Helferinnen und Helfer in der Region in Booten unterwegs auf der Suche nach Menschen, die womöglich auf Dächern ihrer überschwemmten Häuser ausharren, um gerettet zu werden. Videos zeigten Menschen, die verzweifelt ihre durchnässten Hunde, Katzen und anderen Haustiere in Sicherheit bringen wollten.

Die russischen Besatzer gehen laut einem Bericht der russischen Agentur TASS davon aus, dass die Wasserpegel in einigen von Russland kontrollierten Gebieten von Cherson noch drei bis zehn Tage lang hoch bleiben werden. Die Agentur berief sich in ihrer Prognose auf Rettungsdienste. Fachleute hatten zuvor gesagt, der Höchststand könnte bereits am Mittwoch erreicht werden.

Flut in Cherson: 42.000 Menschen in Gefahr

Nachdem der Kachowka-Staudamm in der Südukraine zerstört ist, gibt es schwere Überschwemmungen. Rund 42.000 Menschen befinden sich laut offiziellen Angaben alleine im ukrainisch kontrollierten Gebiet in der Gefahrenzone, die Evakuierungen laufen.

Auch Olexij Kuleba, ein Vertreter der Regierung in Kiew, hatte im Fernsehen zuvor die Hoffnung geäußert, dass es nach Mittwoch keinen weiteren Anstieg der Pegel mehr geben werde. In 17 Ortschaften mit insgesamt 16.000 Bewohnern sei der Höchststand bereits erreicht worden.

Evakuierungsaktionen gehen weiter

Insgesamt seien bereits mehr als 2.700 Menschen in Sicherheit gebracht worden. Angaben der ukrainischen Rettungsdienste zufolge wurden auf der von der Ukraine gehaltenen Seite des Flusses Dnipro „mehr als 1.450 Menschen“ gerettet. Die von Moskau eingesetzten Behörden meldeten die Rettung von 1.274 Menschen auf der anderen Seite des Flusses. Von den ukrainischen Rettungsdiensten hieß es, es gebe noch keine Informationen über Tote oder Verletzte.

überschwemmte Straßen in Cherson
AP/Libkos
Die Großstadt Cherson steht unter Wasser

Ein von Moskau eingesetzter Besatzungsbeamter in Holaja Pristan im Süden der Ukraine sagte, bis zu 1.500 Menschen würden am Mittwoch die Stadt verlassen müssen. Mehr als 200 Menschen seien bereits „herausgebracht“ worden.

Selenskyj: Hunderttausende ohne Trinkwasser

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf den russischen Besatzern vor, sie brächten mit dem Terroranschlag gegen das Wasserkraftwerk und den Staudamm alles Leben in Gefahr. Sie hätten am Dienstag absichtlich eines der größten Wasserreservoirs der Ukraine zerstört. Zehntausende Menschen seien in der Gefahrenzone. Hunderttausende in einem weiteren Einzugsgebiet seien nun ohne normalen Zugang zu Trinkwasser.

Rettungskräfte transportieren Bewohner auf Booten
Reuters
In der Stadt Cherson stieg das Wasser laut Behörden um mehr als zwei Meter

„Unsere Dienste, alle, die helfen können, sind bereits im Einsatz“, schrieb Selenskyj am Mittwoch auf Twitter. „Aber wir können nur in dem Gebiet helfen, das von der Ukraine kontrolliert wird.“ Der Großteil der Region steht unter russischer Besatzung, wo die Behörden den Ausnahmezustand verhängten. Selenskyj warf den Besatzern vor, sich nicht um die Not der Menschen zu kümmern.

Selenskyj: Untersuchung nach Rückeroberung

Selenskyj kündigte zudem in einem Interview der Medien „Welt“, „Bild“ und „Politico“ eine internationale Untersuchung des Vorfalls nach einer Rückeroberung des Gebiets aus russischer Kontrolle an. Sobald die Ukraine den Staudamm kontrolliere, werde sie alle internationalen Experten einladen, den Vorfall zu untersuchen.

Dem Interview zufolge hält Selenskyj die Verantwortung Russlands für das Geschehen für erwiesen. „Das passierte in einem besetzten Gebiet“, sagte er. Schon vor einem Jahr habe die Ukraine angekündigt, dass nach ihren Informationen etwas passieren werde und dass der Damm vermint werde. Es sei klar gewesen, dass ein hohes Risiko für eine Sprengung des Staudamms bestehe. Zum Zeitpunkt des Dammbruchs habe es keinen Beschuss gegeben, fuhr Selenskyj demzufolge fort. Außerdem seien Fachleute der Meinung, dass ein solcher Bruch nicht durch Beschuss habe entstehen können.

Schwere Folgen für Landwirtschaft befürchtet

Das ukrainische Landwirtschaftsministerium warnte zudem vor den Folgen des Dammbruchs auf die Landwirtschaft im Süden des Landes. Nicht nur würden große Anbauflächen überflutet, sondern andere auch von der Bewässerung abgeschnitten. Diese Felder könnten sich im kommenden Jahr in Wüsten verwandeln, weil die Wasserversorgung für 31 Bewässerungssysteme in den Gebieten Dnipro, Cherson und Saporischschja gekappt worden sei.

Satellitenaufnahme zeigt die Überflutung entlang des Flusses Dnipro
Satellitenaufnahme zeigt die Überflutung entlang des Flusses Dnipro
APA/AFP/Maxar Technologies APA/AFP/Maxar Technologies
Auf Satellitenbildern sind die Überschwemmungen deutlich zu erkennen

2021 versorgten diese Systeme 584.000 Hektar Anbaufläche mit Wasser. Dort seien rund vier Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten geerntet worden. Das Ministerium schätzt zudem, dass rund 10.000 Hektar Felder allein auf der rechten, von der Ukraine kontrollierten Uferseite in der Oblast Cherson überflutet würden. Deutlich mehr Anbauflächen würden auf der linken, von Russland kontrollierten Fläche unter Wasser stehen.

Zuvor hatte der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal Russland einen „Ökozid“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorgeworfen. Russland habe „eine der schlimmsten Umweltkatastrophen der vergangenen Jahrzehnte ausgelöst“, sagte Schmyhal am Mittwoch per Videoschaltung aus der Ukraine bei einem Ministertreffen der OECD in Paris.

Putin beschuldigt die Ukraine

Mittlerweile meldet sich auch erstmals der russische Präsident Wladimir Putin in der Cuasa zu Wort und machte die Ukraine für die Explosion verantwortlich. Putin sprach am Mittwoch von einer „barbarischen Tat“ Kiews. Dadurch sei „eine ökologische und humanitäre Katastrophe großen Ausmaßes“ verursacht worden, sagte Putin nach Angaben des Kreml in einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Erdogan wiederum schlug eine Untersuchungskommission vor. Eine solche Kommission könne mit Experten der beiden Kriegsparteien sowie mit Vertretern der Türkei und der Vereinten Nationen besetzt sein und damit ein ähnliches Format haben wie das Getreideabkommen, hieß es. Im Juli 2022 hatten die Vereinten Nationen und die Türkei ein Abkommen vermittelt, das die Blockade ukrainischen Getreides durch Russland beendet hatte.

Moskau wirft Kiew Beschuss von Flutgebieten vor

Die von Russland eingesetzten Behörden in Teilen der Oblast Cherson warfen der Ukraine unterdessen den Beschuss von Flutgebieten vor. Einige Infrastruktur sei dadurch beschädigt worden, sagte der „Gouverneur“ der besetzten Gebiete, Wladimir Saldo, im russischen Fernsehen.

„Der Beschuss ist eher chaotisch als gezielt.“ Russland müsse darauf reagieren, indem die Zerstörung ukrainischer Waffen auf der rechten Uferseite des Dnipro „maximiert“ werde. Die Angaben zum Beschuss durch die Ukraine lassen sich nicht unabhängig prüfen. Zuvor hatte die Ukraine russischen Truppen vorgeworfen, Evakuierungsgebiete anzugreifen.

Personen auf einer überschwemmten Straße in Cherson
AP/Libkos
Personen auf einer überschwemmten Straße in Cherson

Länder und Organisationen leisten Hilfe

Man leiste medizinische und psychologische Hilfe in der Region um Cherson-Stadt für die Menschen, die in Sicherheit gebracht werden, schrieb die Organisation Ärzte ohne Grenzen am Mittwoch in einer Aussendung. Man verteile Hygieneprodukte und erhebe weiterhin den Bedarf in der Region.

Österreich, Deutschland und Litauen leisten über den EU-Zivilschutzmechanismus Hilfe. Die Länder würden Wasserbehälter, Pumpen, Feldbetten und Notunterkünfte in die Ukraine schicken, teilte ein Sprecher der EU-Kommission am Mittwoch mit. „Wir mobilisieren weiterhin Hilfe“, schrieb EU-Kommissionssprecher Balazs Ujvari auf Twitter.

Gleichzeitig stimme sich das humanitäre Büro der EU in der Ukraine mit seinen Partnern ab, um den von den Überschwemmungen Betroffenen rasch zu helfen. Auch Nahrungsmittel und Trinkwasser sollen bereitgestellt werden.

Ursache weiter unklar

Die Ukraine und Russland machen einander weiterhin für die Explosion des Kachowka-Staudamms am Dienstag verantwortlich. Fachleute des US-Thinktanks Institute for the Study of War (ISW) in Washington gehen angesichts der Beweise und der Argumente davon aus, dass Russland den Staudamm absichtlich zerstört hat. Zugleich wiesen sie darauf hin, dass eine endgültige Bewertung der Verantwortung derzeit nicht möglich sei.