Atomkraftwerk Saporischschja
APA/AFP/Andrey Borodulin
Kachowka-Staudamm

Sorge um AKW Saporischschja wächst

Die Teilzerstörung des Kachowka-Staudamms in der Ukraine hat auch Auswirkungen auf das Atomkraftwerk Saporischschja. Das Wasser für die Reaktorkühlung wird langsam zur Mangelware. Die Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) gab vorerst aber Entwarnung: Das AKW pumpe noch Wasser aus dem Stausee. Dennoch bleibe die Lage „unsicher und potenziell gefährlich“.

„Das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja pumpt weiterhin Kühlwasser aus dem Kachowka-Stausee“, hieß in einer Erklärung der IAEA in der Nacht auf Freitag. Eine Prüfung habe ergeben, dass der Pumpvorgang „auch dann fortgesetzt werden kann, wenn der Pegel unter die aktuelle Schwelle von 12,7 Metern fällt“, die zuvor als kritisch eingestuft worden war, erklärte die UNO-Behörde und legte als neuen kritischen Wert einen Wasserpegel von „elf Metern oder sogar darunter“ fest.

Das gebe „uns etwas mehr Zeit, bevor wir möglicherweise auf andere Versorgungsquellen umsteigen müssen“, so IAEA-Chef Rafael Grossi, der nächste Woche das größte AKW Europas im Süden der Ukraine besuchen wird. Wenn der Damm nicht mehr intakt sei, könne das Kraftwerk auf „ein großes Auffangbecken in der Nähe sowie auf kleinere Reserven und Brunnen an Ort und Stelle zurückgreifen, die mehrere Monate lang Kühlwasser liefern können“, sagte Grossi.

Zuvor hatte der Chef des ukrainischen Energieunternehmens Ukrhydroenerho, Ihor Syrota, mitgeteilt, dass die Wasserreservoirs nicht mehr ausreichen würden. Die Reaktoren des von Russland besetzten Atomkraftwerks Saporischschja sind bereits abgeschaltet. Der Brennstoff in den Reaktorkernen und in den Lagerbecken muss allerdings ständig gekühlt werden, um eine Kernschmelze und die Freisetzung von Radioaktivität in die Umwelt zu verhindern.

Satellitenbild vom 5. Juni 2023 zeigt normalen Wasserstand beim Atomkraftwerk Saporischschja
Satellitenbild vom 8. Juni 2023 zeigt niedrigen Wasserstand beim Atomkraftwerk Saporischschja
ESA Copernicus Sentinel 2 ESA Copernicus Sentinel 2
Satellitenbilder vom Atomkraftwerk Saporischschja zeigen die unterschiedlichen Wasserstände vor (5. Juni 2023) und nach (8. Juni 2023) der Teilzerstörung des Kachowka-Staudamms

In der Nacht auf Dienstag zerstört

Der in russisch besetztem Gebiet liegende Kachowka-Staudamm am Dnipro war in der Nacht auf Dienstag teilweise zerstört worden, große Mengen Wasser traten aus. Kiew und Moskau werfen sich gegenseitig vor, für den Vorfall verantwortlich zu sein. Fachleute vom US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) gehen angesichts der Beweise und der Argumente davon aus, dass Russland den Staudamm absichtlich zerstört hat. Zugleich wiesen sie darauf hin, dass eine endgültige Bewertung der Verantwortung derzeit nicht möglich sei.

Die Überschwemmungen erstrecken sich nach ukrainischen Angaben auf eine Fläche von mehreren hundert Quadratkilometern. „600 Quadratkilometer der Region Cherson stehen unter Wasser, davon 32 Prozent am rechten Ufer und 68 Prozent am linken“ von Russland kontrollierten Ufer des Dnipro, erklärte der Gouverneur der Region Cherson, Olexandr Prokudin, am Donnerstag in Onlinemedien.

In der Gebietshauptstadt Cherson zeigte der Hochwasserpegel Donnerstagfrüh 5,61 Meter an, wie Prokudin mitteilte. Die Lage in den von den Überschwemmungen betroffenen Gebieten bezeichnete er als „extrem schwierig“. Trotz der Gefahr durch die Wassermassen und schweren russischen Beschusses ging die Evakuierung des überfluteten Gebiets weiter. Aber viele Menschen wollten das Gebiet nicht verlassen, sagte Prokudin.

Umweltschäden nach Staudammbruch

Die betroffenen Gebiete sowie Fauna und Flora seien durch die Wassermassen stark in Mitleidenschaft gezogen worden, so Astrid Sahm, Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, am Donnerstag gegenüber der APA. Durch die Zerstörung des Staudamms wurden weitflächig Gebiete überschwemmt, was auch zu einem höheren Risiko für Infektionskrankheiten führe. Stark betroffen sei auch die Landwirtschaft. Durch gewaltige Wassermassen wurde fast die gesamte Ernte der Region zerstört, so Sahm. Das tatsächliche Ausmaß der Folgen sei derzeit noch schwer einschätzbar.

Satellitenbild von Oleshky
Reuters/Maxar Technologies
Die ukrainische Stadt Oleschky steht unter Wasser

Längerfristig gesehen werde der Staudammbruch die Wasserversorgung der Südukraine drastisch verändern. Die Landwirtschaft in den betroffenen Gebieten sei wasserintensiv, mit Weinanbau, Reisanbau und Ähnlichem. Durch das Abfließen des Stausees könnte der Nordkrim-Kanal austrocknen. Wird der Kanal nicht mehr mit Wasser gespeist, werde es Trockenheit auf der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim geben.

Im Ukraine-Krieg würden „Umweltprobleme sehr bewusst in Kauf genommen“. Das zeige sich etwa in der starken Verminung von Naturschutzgebieten. Die Zerstörung des Staudammes sei ein weiterer Punkt, der aber in der „Größenordnung herausragt“. Das ukrainische Umweltministerium schätzt den Schaden für die Umwelt durch den Krieg auf 441 Milliarden US-Dollar (412,81 Mrd. Euro). Insgesamt zähle man bisher über 2.400 kriegsbedingte Umweltverbrechen. Es werde Jahrzehnte dauern, um die Schäden des Krieges und somit auch die Umweltschäden auszugleichen, so Sahm.

Selenskyj besuchte Hochwasserregion

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reiste in die Hochwasserregion und machte sich im Gebiet Cherson ein Bild von den laufenden Evakuierungen.

Selenskyj in Hochwasserregion

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reiste am Donnerstag in die Hochwasserregion. Im Gebiet Cherson habe er sich unter anderem ein Bild von den laufenden Evakuierungen gemacht, teilte Selenskyj über seinen Telegram-Kanal mit. Er veröffentlichte auch ein Video, das ihn mit Anrainern, Rettern und Soldaten zeigt. Zu sehen sind auch Häuser, von denen nur noch die Spitze des Dachs aus den Wassermassen ragt.

Nach Angaben des ukrainischen Katastrophenschutzes wurden bisher 1.995 Menschen aus den überfluteten Gebieten in Sicherheit gebracht, darunter 103 Kinder. Die Fluten haben Teile der Regionalhauptstadt Cherson überschwemmt. Nach dem Bruch des Staudamms kamen in der nahe gelegenen Stadt Nowa Kachowka fünf Menschen ums Leben. Das berichtete die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA unter Berufung auf den Bürgermeister der Stadt, die von Russland kontrolliert wird.

Ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskij
Reuters
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Hochwasserregion

Die Ukraine verurteilte indes russische Angriffe während der Hilfsmaßnahmen in Cherson. „Wir verurteilen die Bombardierung der Evakuierungszonen aufs Schärfste“, sagte der ukrainische UNO-Botschafter Serhij Kyslyzja. Er forderte die russischen Behörden auf, die Angriffe einzustellen und einen „vollständigen, sicheren und ungehinderten“ Zugang für Hilfslieferungen zu ermöglichen.

Humanitären Einsatzkräften insbesondere der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuzes (IKRK) müsse es ermöglicht werden, den Menschen in den von den Überschwemmungen betroffenen Gebieten am von Russland kontrollierten linken Ufer des Dnipro zu helfen, forderte Kyslyzja.

Rückschlag für russische Truppen

Die russischen Truppen haben durch die Zerstörung des Kachowka-Staudamms aus Sicht des Militärs in Kiew und von US-Experten Verluste hinnehmen müssen. Die Besatzer seien nicht vorbereitet gewesen auf die Folgen der Sprengung des Staudamms und hätten deshalb Soldaten, Ausrüstung und Militärtechnik verloren, teilte der Generalstab am Donnerstag in Kiew mit. Es gebe tote, verletzte und vermisste russische Soldaten.

Auch Experten des ISW stellten fest, dass durch die Fluten aus dem Stausee russische Verteidigungsstellungen in der Frontlinie vernichtet worden seien. Von Russland gibt es dazu keine Angaben.

Die Überschwemmungen zwangen die russischen Truppen laut ukrainischen Angaben zu einem größeren Rückzug. Die russischen Streitkräfte hätten sich wegen der Wassermassen in der Region Cherson um fünf bis 15 Kilometer zurückziehen müssen, sagte eine ukrainische Militärsprecherin im Fernsehen. Das habe den russischen Beschuss in der Region „praktisch halbiert“.

Überflutungszone des Dnipro nach Bruch des Damms in Nowa Kachowka mit Hervorhebung bewohnter Gebiete, gemäß Satellitendatenanalyse der UNO-Agentur UNITAR. Stand der Daten: 7.6.2023, veröffentlicht am 8.6.2023.

Rotes Kreuz warnt vor weggespülten Minen

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat nach der teilweisen Zerstörung des Staudamms auf die katastrophalen Auswirkungen für die Lokalisierung von Landminen hingewiesen. „Wir wussten, wo die Gefahren waren“, sagte Erik Tollefsen, Leiter der Abteilung für Waffenbelastung beim IKRK, am Mittwoch. „Nun wissen wir es nicht mehr. Alles, was wir wissen, ist, dass sie irgendwo flussabwärts sind.“

Das sei sehr beunruhigend, sowohl für die betroffene Bevölkerung als auch „für all diejenigen, die kommen, um zu helfen“. Tollefsen äußerte sich anlässlich der Präsentation einer mit Hilfe von künstlicher Intelligenz (KI) entwickelten Drohne. Diese kann Minen und Sprengstoffreste wegen der davon ausgehenden Wärme lokalisieren. Eines Tages könnte sie in der Ukraine eingesetzt werden. Das IKRK habe mehrere Monate bei Minenräumarbeiten in der Ukraine geholfen, Minenfelder kartiert und markiert sowie Training und Ausrüstung bereitgestellt. „Nun wurde all das weggespült“, sagte er. Anti-Personen-Minen und Anti-Panzer-Minen wie die TM-57 seien nun an unbekannten Orten verteilt.

Selenskyj-Kritik zurückgewiesen

Selenskyj hatte Organisationen wie das Rote Kreuz, das seiner Ansicht nach aktiver sein müsste, kritisiert. Das wies der Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuz (DRK), Christian Reuter, zurück. „Natürlich sind wir schon da, waren schon da“, sagte Reuter am Donnerstag im Sender Welt-tv. „Aktuell versuchen gerade über 70 Freiwillige des ukrainischen Roten Kreuzes, Menschen aus den Flutmassen zu retten“, so Reuter.

Der Einsatz sei gefährlich, sagte der DRK-Generalsekretär angesichts der Gefechte zwischen russischen und ukrainischen Truppen in dem teilweise von Russland besetzten Gebiet. Dennoch arbeiteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IKRK auch an der Konfliktlinie. Das gehe allerdings „natürlich nur, wenn alle an diesem Konflikt Beteiligten Sicherheitsgarantien abgeben“. Das sei aber nicht immer der Fall.