Ukrainischer Panzer in der Region Donezk
APA/AFP/Anatolii Stepanov
Weiteres Dorf erobert

Ukraine sucht russische Schwachpunkte

Wenige Tage nach Start der Gegenoffensive meldet Kiew mehrere kleinere Erfolge. An mehreren Frontabschnitten drangen ukrainische Truppen bis zu sieben Kilometer vor. Die eigentlichen russischen Verteidigungslinien haben sie aber noch nicht erreicht. In dieser Phase geht es laut Fachleuten vor allem darum, Schwachpunkte in der russischen Verteidigung zu finden.

Am Sonntag hatte die Ukraine betont, man habe im Osten drei Dörfer, Blahodatne, Neskutschne und Makariwka, befreit. Die Angaben können nicht unabhängig überprüft werden. Allerdings meldeten auch kremlnahe russische Militärblogger, dass Blahodatne aufgegeben worden sei, weil die Armee dort eine Einkesselung befürchtet habe. Zudem bestätigten sie die Einnahme von Neskutschne. Wie erst jetzt bekanntwurde, soll bereits vergangene Woche der Ort Nowodarjiwka eingenommen worden sein.

Am Montag tauchte ein Video auf, das ukrainische Soldaten zeigt, wie sie die Fahne in Storoschewe, einem Nachbarort, in die Höhe halten. Die Nachrichtenagentur Reuters konnte den Ort der Videoaufnahme bestätigen. Das Verteidigungsministerium dankte der an der Eroberung beteiligten Brigade. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte am Montag nur ganz allgemein ukrainische Angriffe der letzten 24 Stunden in der südlichen Donezk-Region, gab aber an, die Angriffe abgewehrt zu haben.

Erste Erfolge der Gegenoffensive

Die ukrainische Armee hat erste Erfolge bei ihrer Gegenoffensive gemeldet. Im Südosten des Landes nahm sie einige Dörfer ein.

Wenige Kilometer vorgerückt

Die mutmaßliche Rückeroberung der vier Dörfer ist das schnellste Vordringen ukrainischer Kampfverbände seit dem Herbst. Es bedeutet aber kein größeres Durchbrechen russischer Verteidigungslinien. Das mutmaßliche Vorrücken entspricht einer Raumeroberung von etwa fünf Kilometern. Der österreichische Brigadier Philipp Eder sprach im Ö1-Mittagsjournal von maximal sieben Kilometern – und das an einzelnen Stellen einer insgesamt rund 1.200 Kilometer langen Front.

Derzeit sei das Verhalten beider Seiten „sehr klassisch“, so Eder. Russische Truppen würden sehr tief gestaffelt stehen. Ukrainische Truppen hätten bisher nur russische Gefechtsvorposten erreicht. Deren Aufgabe sei es vor allem aufzuklären, was von ukrainischer Seite komme, und nicht, nachhaltig zu verteidigen. Die richtigen Verteidigungslinien habe die ukrainische Armee „noch lange nicht erreicht“.

Aktuelles Geschehen keine Überraschung für Russland

Das Ziel der Ukraine derzeit sei es, diese Verteidigungslinie zu erreichen und dort Schwachpunkte zu finden und zu versuchen, dort durchzubrechen. Das erkläre auch, warum derzeit an so breiter Front gekämpft werde. Die derzeitigen Kämpfe seien sicher keine Überraschung für Russland, das durch die Überschwemmung südlich des zerstörten Kachowka-Staudamms nun Truppen von dort an andere Abschnitte verlege.

Die Ukraine setze in dieser Phase nur einen Bruchteil der verfügbaren Kräfte ein. Allerdings sei es der russischen Seite gelungen, in „offenbar relativ hoher Anzahl hochwertige Ziele zu vernichten“, so Bauer unter Verweis auf Berichte über die mutmaßliche Zerstörung mehrerer Leopard-Panzer.

Korridor zum Asowschen Meer

Strategisches Ziel der Ukraine sei es, vor allem eine Landbrücke zum Asowschen Meer zu schlagen und damit die russische Versorgungslinie auf die Krim zu unterbrechen. Nur wenn dieses Ziel „sehr erfolgreich“ umgesetzt werde, könnten in weiterer Folge auch Angriffe auf die Halbinsel Krim erfolgen, so Eders Einschätzung. Auch andere Fachleute gehen davon aus, dass das Schlagen eines Korridors zum Asowschen Meer das vorrangige Ziel der Kiewer Gegenoffensive ist. Auch nach den jüngsten Vorstößen ist die ukrainische Armee noch rund 90 Kilometer vom Asowschen Meer entfernt.

Ein Überraschungseffekt und ein Überrumpeln russischer Truppen wie im Herbst in Charkiw ist eher unwahrscheinlich. Russische Verbände errichteten über den Winter ausgedehnte Verteidigungslinien. Fachleute gehen auch davon aus, dass Moskau von seinen Fehlern in den ersten Monaten gelernt hat. Bomben wurden zudem zu zielgesteuerten Waffen umgebaut, und zahlreiche Drohnen sind im Einsatz.

Beides reduziert das Risiko für die russischen Luftstreitkräfte erheblich. Dazu kommt, dass durch die Teilmobilisierung und andere Initiativen zumindest die Truppenzahl erhöht wurde. All das verringert die Chancen auf einen schnellen Sieg Kiews und macht einen langen Abnutzungskrieg wahrscheinlicher.

„Unfair und unvernünftig“ hohe Erwartungen

Dazu kommen die teils von der Ukraine selbst und durch die schnellen und überzeugenden Teilerfolge im Herbst – Stichwort: Charkiw und Cherson – geweckten hohen Erwartungen insbesondere im Westen. Der ehemalige britische General Richard Barrons warnte, Russland habe Verteidigungslinien wie aus dem Lehrbuch aufgebaut und taktisch dazugelernt.

Die russische Armee sei nun besser darin, ukrainische Artillerie und Panzer abzuschießen, „wenn sie sie entdecken“, so Barrons. Es sei daher klar, „dass das ein härterer Kampf wird als um Cherson oder Charkiw“. Die damaligen Erfolge als Maßstab für die nunmehrige Offensive heranzuziehen sei angesichts der geänderten Umstände „unfair und unvernünftig“.