Rettungskräfte bringen am Hafen von Kalamata eine verletzte Person in eine Ambulanz
Reuters/Stelios Misinas
Hunderte Tote befürchtet

Ermittlungen nach schwerem Bootsunglück

Einen Tag nach dem verheerenden Bootsunglück vor der Küste Griechenlands haben die Suchteams wenig Hoffnung, noch Überlebende zu finden. 104 Menschen konnten bisher gerettet werden, Schätzungen zufolge hätten sich auf dem Boot aber bis zu 700 Geflüchtete, darunter viele Kinder und Frauen, befunden. 78 Leichen wurden bisher geborgen. Die Ermittlungen zum Hergang der Katastrophe laufen – und Kritik an der späten Reaktion Griechenlands wird laut.

Das etwa 30 Meter lange, verrostete Boot war in der Nacht auf Mittwoch vor der Halbinsel Peloponnes gesunken. Gerettet werden konnten bisher laut Küstenwache nur Männer. 43 davon sind aus Ägypten, 47 aus Syrien, zwölf sind Pakistaner und zwei Palästinenser. Acht der Geretteten sind minderjährig. Die Überlebenden berichteten, dass sich im Laderaum des Schiffes viele Frauen, auch Schwangere, und Hunderte Kinder befunden hätten. Es wird davon ausgegangen, dass sich die Menschen unter Deck nicht retten konnten, als das Schiff sank.

Zehn Überlebende wurden laut dem griechischen Sender ERT bisher befragt, weil sie verdächtigt werden, als Schlepper mitverantwortlich für das Unglück zu sein. Vier Personen wurden festgenommen. Obwohl die Sucharbeiten die Nacht über andauerten und auch am Donnerstag weitergingen, wurden keine weiteren Überlebenden oder Leichen gefunden. Die Unglücksstelle liegt nahe der tiefsten Stelle des Mittelmeeres, dem Calypsotief, das rund fünf Kilometer bis zum Meeresboden reicht. Eine Bergung des Wracks könnte damit so gut wie ausgeschlossen sein.

Luftaufnahme von überfülltem Flüchtlingsboot
Reuters/Hellenic Coast Guard
Erste veröffentlichte Bilder zeigen ein völlig überfülltes Boot

Vorwürfe an Küstenwache

NGOs werfen der griechischen Küstenwache vor, zu spät reagiert zu haben. Laut BBC hieß es etwa von Ärzte ohne Grenzen, dass europäische und griechische Behörden angesichts des Zustands des übervollen Bootes früher hätten aktiv eingreifen müssen – auch wenn das Boot die Hilfe nicht annehmen wollte.

„Das tragische Schiffsunglück vor der griechischen Küste wäre vermeidbar gewesen. Die entsetzten Reaktionen der führenden europäischen Politiker:innen zeigen, wie scheinheilig die derzeitige Migrationspolitik ist", so die Organisation in einer Aussendung.

Die Seenotrettungsinitiative Alarm Phone kritisierte, dass die griechischen Behörden bereits Stunden vor dem Sinken von unterschiedlichen Kanälen über die Probleme des Schiffes informiert worden seien. Dass das Boot wiederholt Hilfe abgelehnt und auf dem Weg nach Italien bestanden habe, habe mit den Berichten über das „harte Vorgehen und die systematischen Pushbacks“ vonseiten griechischer Einsatzkräfte zu tun.

Stunden vor Unglück lokalisiert

Der völlig überfüllte und desolate Fischkutter war Tage zuvor von Libyen aus in See gestochen. Schon am Dienstag hätten italienische Behörden die griechischen Nachbarn über ein voll besetztes Fischerboot im griechischen Such- und Rettungsbereich informiert, hieß es in einer Mitteilung der Küstenwache. Ein Frontex-Flugzeug habe das Boot 47 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes lokalisiert.

Sowohl die Beamten der Küstenwache als auch vorbeifahrende Frachter hätten den Menschen per Funk Hilfe angeboten. Der Fischkutter habe das Angebot jedoch mit der Begründung abgelehnt, man wolle Italien erreichen. Weil sich das Boot in internationalen Gewässern befand, habe die griechische Küstenwache erst eingegriffen, als es in der Nacht auf Mittwoch in Seenot geriet und kenterte.

Hunderte Tote befürchtet

Bei einem schweren Bootsunglück südwestlich von Griechenland sind mindestens 78 Menschen ums Leben gekommen. Die Suche nach Vermissten geht weiter. Auf dem Schiff könnten sich zwischen 500 und 700 Menschen befunden haben.

Krisenzentrum in Kalamata eingerichtet

Die Hafenstadt Kalamata auf der Halbinsel Peloponnes wurde unterdessen zum Krisenzentrum: Ins dortige Krankenhaus und in andere Spitäler in der Region wurden Überlebende gebracht, die zum Teil wegen Unterkühlung behandelt werden mussten. Am Donnerstag und Freitag sollen die Geretteten in ein Flüchtlingslager nahe Athen gebracht werden. Staatspräsidentin Ekaterini Sakellaropoulou flog nach Kalamata, um sich ein Bild der Lage zu machen.

Flüchtling in Unterkunft
AP/Thanassis Stavrakis
Überlebende wurden vorerst in einer Lagerhalle in Kalamata untergebracht

Italiens Innenminister fordert mehr EU-Kooperation

Der italienische Innenminister Matteo Piantedosi forderte am Donnerstag einen entschlosseneren Kampf der EU gegen Schlepperei. „Was sich auf dem Peloponnes ereignet hat, ist eine große Tragödie, die uns betrübt. Ich hoffe, dass sie sich nicht wiederholen wird, aber ich fürchte, dass dies nicht geschehen wird“, sagte er in einem Interview mit dem TV Sender SkyTg24. Europa müsse die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern der Menschen stärken, um die Abfahrten in Richtung Europa zu stoppen.

„Mit den Herkunftsländern der Migranten, insbesondere mit denen in Nordafrika, muss die Zusammenarbeit über Sicherheitsfragen hinausgehen. Wir verstehen das Thema Einwanderung in einem viel breiteren Rahmen“, sagte Piantedosi und bezog sich dabei auf Kooperation auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene.

Der erste Vizepräsident des Europaparlaments, Othmar Karas, forderte am Donnerstag legale Fluchtwege und ein Ende der Pushbacks. „Die Tragödie vor der griechischen Küste ist unfassbar. Wenn die Angst vor Pushbacks mitverantwortlich war, ist das der letzte Beweis, dass mit diesem illegalen Vorgehen endlich Schluss sein muss“, so Karas auf Twitter. Eine gemeinsame EU-Asyl- und -Migrationspolitik sei seit Jahren überfällig, sichere EU-Außengrenzen und sichere Fluchtwege dabei kein Widerspruch. „Das Sterben im Mittelmeer muss ein Ende haben.“

Caritas fordert humanitäres Vorgehen

Mit scharfer Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik reagierte auch Caritas-Wien-Direktor Klaus Schwertner. „Europa versagt seit Jahren, wenn es darum geht, Menschen auf der Flucht zu schützen. Seit 2014 sind bereits mehr als 20.000 Geflüchtete auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken“, sagte Schwertner gegenüber Kathpress.

Es sei leider zu befürchten, dass auch der jüngste Vorstoß der EU-Innenminister die Situation nicht verbessern werde, so Schwertner. „Wichtige menschenrechtliche Garantien und humanitäre Erwägungen werden völlig außer Acht gelassen.“ Europa müsse sich zu humanitären Aufnahmeprogrammen und zu Resettlement bekennen, so die Forderung der Caritas.

Unglück „Folge europäischer Politik“

Auch der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka zeigte sich entsetzt und forderte einmal mehr sichere, legale Fluchtwege und humanitäre Korridore. Es handle sich bei dem Unglück um „keine unausweichliche Naturkatastrophe, sondern Folge europäischer Politik“, kritisierte er. Diese verweigere den Menschen „Rechte, Solidarität und die Aufnahme“, so Chalupka.

Papst Franziskus bete für die vielen Menschen, die gestorben sind, für deren Angehörige und jene, die durch diese Tragödie traumatisiert wurden, hieß es heute in einem Beileidsschreiben von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin im Namen des Papstes – mehr dazu in religion.ORF.at.

UNHCR: Zahl der Geflüchteten steigt

Seit 2014 sind nach UNO-Angaben mehr als 20.000 Migrantinnen und Migranten auf dem Mittelmeer gestorben. Erst Ende Februar 2023 kam es in Italien vor der Küste Kalabriens zu einem Bootsunglück mit mindestens 90 Toten. Gleichzeitig schlug am Mittwoch auch das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Alarm.

Boot der Küstenwache mit Leichensäcken im Hafen von Kalamata
Reuters/Stelios Misinas
Eine Suchaktion in der Nacht auf Donnerstag blieb erfolglos

Mit der Zahl der Krisen weltweit wachse auch die der Flüchtlinge: Aktuell sind so viele Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wie noch nie zuvor, wie das UNHCR in Genf berichtete. Rund 110 Millionen Menschen seien auf der Flucht, zwei Drittel davon in ihren Heimatländern, ein Drittel überwiegend in Nachbarländern. Im Juni 2022 lag die Zahl bei rund 100 Millionen.

UNO fordert sichere Fluchtrouten

Die UNO forderte am Mittwoch die Sicherheit von Fluchtrouten. „Das ist ein weiteres Beispiel für die Notwendigkeit, dass die Mitgliedsstaaten zusammenkommen und geordnete, sichere Wege für Menschen schaffen, die zur Flucht gezwungen sind“, sagte Sprecher Stephane Dujarric in New York. In diesen Prozess müssten „Herkunftsländer, Transitländer und Bestimmungsländer“ eingebunden sein.

Fluchtgründe sind nach UNHCR-Angaben Krieg, Gewalt und Verfolgung. Viele Krisen würden durch die Folgen des Klimawandels verschärft, etwa, wenn im Streit über schwindende Ressourcen alte Spannungen neu aufbrechen. Das UNHCR verlangt, Fluchtursachen besser zu bekämpfen. Die Zahlen seien verheerend, sagte der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. „Es ist ein Armutszeugnis für den Zustand unserer Welt.“