Luftaufnahme von überfülltem Flüchtlingsboot
Reuters/Hellenic Coast Guard
Hunderte Tote

Schwere Vorwürfe gegen Küstenwache

Nach dem schweren Bootsunglück mit vermutlich Hunderten Toten im Mittelmeer werden Kritik und Skepsis an dem Vorgehen der griechischen Küstenwache lauter. Sowohl die Küstenwache als auch die griechische Regierung dementierten am Freitag eine Reihe von Berichten, wonach das Flüchtlingsboot gekentert sei, weil die Küstenwache ein Seil befestigt habe.

Neue Aussagen von Regierungssprecher Ilias Siakantaris sorgten allerdings für Zweifel an der Darstellung der Küstenwache. Gegenüber dem griechischen Fernsehen sagte Siakantaris, dass die Küstenwache wenige Stunden vor dem Untergang des Bootes ein Seil benutzt habe, „um sich stabil zu positionieren, um sich zu nähern, um zu sehen, ob sie Hilfe brauchen“. Es habe jedoch „kein Anlegeseil“ gegeben. „Sie lehnten es ab, sagten: ‚Keine Hilfe, wir fahren nach Italien‘ und setzten ihren Weg fort.“

Die Küstenwache hatte stets gesagt, sie habe Abstand zu dem Boot mit Hunderten Geflüchteten gehalten. Zwei kommerzielle Schiffe hätten das Boot zwar mit Wasser versorgt, doch wiederholte Hilfsangebote per Funk vonseiten der Küstenwache seien abgelehnt worden mit der Begründung, man wolle Italien erreichen. Weil man sich in internationalen Gewässern befunden habe, habe man erst eingreifen können, als der Kutter in der Nacht auf Mittwoch in Seenot geriet und kenterte.

Das Boot sank rund 50 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes in internationalen Gewässern

Die Frage, ob eines der Schiffe versuchte, ein Seil an dem Migrantenboot zu befestigen, wurde der britischen BBC zufolge erstmals von einem Aktivisten aufgeworfen, der sagte, dass die Menschen an Bord befürchtet hätten, dass das Anbringen eines Seiles dazu führen könnte, dass das stark überfüllte Boot kippen könnte. Auch die griechische Regierung dementierte jedoch am Freitag, dass ein Anlegeseil verwendet wurde.

Überlebende erheben schwere Vorwürfe

Zudem berichtete die BBC von Aussagen zweier Überlebender, die nahelegen würden, dass ein Seil zum Untergang des Bootes geführt haben könnte. So habe ein Syrer, der an Bord gewesen war, mit einem Gemeinderatsmitglied der Hafenstadt Kalamata gesprochen. Die Küstenwache habe das Boot mit einem Seil festgebunden und versucht, es nach links zu ziehen. Aus einem unbekannten Grund sei das Boot plötzlich nach rechts gekippt und gesunken.

Ein anderer Überlebender habe dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Chef der größten Oppositionspartei, Alexis Tsipras, bei einem Besuch in Kalamata am Donnerstag eine ähnliche Situation geschildert. „Die griechische Küstenwache forderte das Schiff auf, ihnen zu folgen, aber sie konnten es nicht“, zitierte die BBC einen Übersetzer von Tsipras.

„Die Küstenwache warf daraufhin ein Seil aus, aber da sie nicht wussten, wie sie das Seil ziehen sollten, begann das Schiff nach rechts und links zu schlingern.“ Das Boot der Küstenwache sei zu schnell gefahren, das Schiff sei bereits nach links gekippt und dann gesunken.

Sprecher der griechischen Küstenwache dementiert

Der Sprecher der griechischen Küstenwache, Kapitän Nikos Alexiou, sagte am Freitag, dass „kein Versuch unternommen wurde, das Boot festzumachen“. Es seien jedoch Seile von Matrosen eines kommerziellen Schiffes, das im Laufe des Abends Nachschub lieferte, geworfen worden.

„Da das Schiff nicht um Hilfe gebeten hatte, konnten wir nicht eingreifen“, sagte er dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ERT. „Man kann nicht in internationale Gewässer eindringen, wenn ein Schiff nicht in Schmuggel oder ein anderes Verbrechen verwickelt ist.“ Das Boot habe illegal Menschen transportiert. Man sei noch nicht in der kritischen Phase gewesen, um die Rettungsaktion zu ermöglichen.

Tsipras sieht Mitschuld bei Küstenwache

Bereits am Donnerstag hatte Tsipras der Küstenwache eine Mitschuld attestiert. In einem Streitgespräch fragte er den Interimsminister für Bürgerschutz, Evangelos Tournas, warum diese nicht eingegriffen habe. Tournas sagte, ein Eingreifen in internationalen Gewässern sei nicht möglich, wenn der Kapitän des Bootes das ablehne. Hilfe sei der Besatzung mehrfach angeboten, diese aber konsequent ausgeschlagen worden.

Überlebende des Bootsunglücks vor Griechenland sprechen mit Mitarbeitern des Roten Kreuzes
AP/Thanassis Stavrakis
Überlebende des Bootsunglücks vor Griechenland sprechen mit Mitarbeitern des Roten Kreuzes

Noch weiter ging der ehemalige EU-Parlamentsabgeordnete Kriton Arsenis. Er beschuldigte die Küstenwache, dass sie das Boot aus griechischen Gewässern bringen wollte: „Das Boot der Geflüchteten war mit einem Seil am Schiff der Küstenwache befestigt“, sagte Arsenis in einem Video, das die norwegische NGO Agean Boat Report auf Twitter veröffentlichte. Arsenis habe mit Überlebenden gesprochen. Laut ihrere Darstellung sei das Schiff plötzlich gesunken. Doch diese Information scheine in den Berichten der Küstenwache nicht auf.

Unglück fällt in innenpolitisch unruhige Phase

Politikerinnen und Politiker vor allem linker Parteien sehen die konservative Regierung der vergangenen vier Jahre in der Verantwortung. Aufgrund von ihr eingeführter strenger Kontrollen auf dem Meer wählten Schleuser nun gefährlichere, längere Routen an Griechenland vorbei direkt nach Italien, lautet der Vorwurf.

Das Unglück und die Debatte fallen in eine innenpolitisch unruhige Phase in Griechenland. Am 25. Juni findet erneut eine Parlamentswahl statt, nachdem bei der Wahl im Mai keine Regierung zustande gekommen ist. Im Amt ist deshalb aktuell eine Interimsregierung aus hohen Beamten und Akademikern. Sie ordnete nach dem Unglück eine dreitägige Staatstrauer an. Die Interimsminister müssen sich nun auch mit Vorwürfen um das Unglück auseinandersetzen.

Hoffnung auf Überlebende schwindet

Die Hoffnung, noch Überlebende zu finden, schwindet unterdessen „nach diesem tragischen Schiffsunglück von Minute zu Minute“ sagte Stella Nanou, eine Sprecherin des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR), am Freitag der Nachrichtenagentur AFP. Sie sprach sich zugleich dafür aus, dass die Suche dennoch weitergehen müsse.

Das Suchgebiet in den Gewässern südwestlich von Griechenland wurde am Freitag nochmals ausgeweitet, wie die Küstenwache mitteilte. Laut Medienberichten soll die Suche im Laufe des Tages aber eingestellt werden. Am Donnerstagabend waren von den 104 Überlebenden neun Verdächtige in der Hafenstadt Kalamata festgenommen worden.

Neun mutmaßliche Schleuser in Polizeigewahrsam

Am Freitag begannen die Behörden, die Überlebenden in ein Auffanglager nördlich von Athen zu bringen, wo die Menschen registriert werden und Asylanträge stellen können. Lediglich die neun mutmaßlichen Schleuser blieben in Kalamata in Polizeigewahrsam.

Dabei handelt sich nach Angaben der Küstenwache um Ägypter im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. Ihnen werden fahrlässige Tötung, Menschenhandel und die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Den Großteil der Opfer scheint der gut 30 Meter lange Fischkutter mit sich in die Tiefe gerissen zu haben.

Festnahmen nach Bootsunglück

Nach dem Untergang eines Flüchtlingsbootes südwestlich von Griechenland gibt es keine Hoffnung mehr, Überlebende retten zu können.

Frauen und Kinder unter Deck

Insgesamt könnten sich zwischen 500 und 700 Menschen an Bord befunden haben, wie die Behörden unter Berufung auf die Befragung Überlebender und Schätzungen der Kapazität des Bootes bekanntgaben. Gewissheit wird es nicht geben: Der Unglücksort rund 50 Seemeilen südwestlich der griechischen Halbinsel Peloponnes liegt genau über dem Calypsotief, der mit über 5.000 Metern tiefsten Stelle des Mittelmeeres.

Medienberichten zufolge soll es an Bord zur Massenpanik gekommen sein, als die Maschinen des alten Kutters ausfielen. Das übervolle Schiff sei daraufhin aus dem Gleichgewicht gekommen, gekentert und sofort gesunken. Überlebende gaben an, dass viele Passagiere nicht schwimmen konnten und auch kaum jemand eine Schwimmweste trug. Auch hätten sich die Menschen unter Deck nicht so schnell ins Freie retten können. Unter ihnen seien viele Frauen und bis zu 100 Kinder gewesen, hieß es.

Frontex wusste von Boot

Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex wusste um das gefährdete Boot. Seine Kollegen hätten das Boot am Dienstag entdeckt und den Behörden gemeldet, sagte Frontex-Chef Hans Leijtens der „Süddeutschen Zeitung“ (Freitag-Ausgabe). Er selbst sei direkt nach Griechenland geflogen, um zu klären, was genau passiert sei.

„Ich wünschte, ich hätte den Einfluss, das Sterben zu stoppen“, so der Frontex-Chef. Allerdings könne man keine Wunder vollbringen: „Wir überwachen ein Meer, das doppelt so groß ist wie Frankreich, Spanien und Italien zusammen. Es ist sehr schwer, jedem zu helfen, der in Not gerät“, sagte er. Man dürfe gar nicht erst warten, bis die Schiffe kommen. „Wir müssen mehr dagegen tun, dass sie ablegen.“

Ein Beamter der griechischen Küstenwache bei einer Absperrung zum Warenhaus, wo Überlebende des Bootsunglück untergekommen sind
AP/Thanassis Stavrakis
In einem Warenhaus wurden Überlebende des Bootunglücks untergebracht

UNO-Organisationen forderten die EU zum Handeln auf, damit sich solche Tragödien nicht wiederholen. „Die EU muss Sicherheit und Solidarität in den Mittelpunkt ihres Handelns im Mittelmeer-Raum stellen“, teilte die stellvertretende UNO-Hochkommissarin für Flüchtlinge am Freitag mit.