ein Gruppe Frauen bei einem Junggesellinnenabschied
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Geschäft Polterreisen

Jubel, Trubel, Peinlichkeit

Sie prägen an Wochenenden die Innenstädte, egal ob es eine Landeshauptstadt, Wien oder eine andere europäische Metropole ist: Gruppen von jungen Männern oder Frauen, meist auffällig gekleidet und nicht selten recht laut. Der Abschied von Junggesellinnen und Junggesellen hat sich vom Ritual des Polterabends hin zu einem großen wirtschaftlichen und teils auch touristischen Faktor entwickelt – und für viele auch zum Ärgernis.

Traditionelle Polterabende sind in weiten Teilen Europas seit Hunderten Jahren bekannt. Bei dem Ritual wurde am Vorabend der Hochzeit Porzellan zerbrochen. Im Laufe der Zeit wurde der Termin vorgerückt, der ursprüngliche Brauch entwickelte sich mehr und mehr in Richtung feucht-fröhliches Fest.

Spätestens in den 2000ern begann dann der Siegeszug der angelsächsischen Variante, der „Bachelor Parties“ bzw. „Bachelorette Parties“, wie sie in den USA heißen, und ihrer britischen Version, der „Stag Parties“ bzw. „Hen Parties“: Gefeiert wird nicht mehr unbedingt im Wohnzimmer, Partykeller oder als geschlossene Gesellschaft im Lokal – sondern öffentlich sichtbar. Filme wie „Hangover“ sorgten für Popularität, und mit den damals neuen Möglichkeiten der Selbstdarstellung via Social Media machten solche Events auch gleich mehr her als kleine Feiern in der Wohnung.

Am Anfang waren die Briten

Es war vor allem junge Briten, die das Polterwochenende in fremden Städten nach Kontinentaleuropa brachten – und das in kaum zu übersehender Manier: In Prag, Riga, Krakau und Bratislava wimmelte es alsbald von Jungmännerhorden. Und in Zeiten von Billigfliegern war es angesichts der Preisunterschiede und der konsumierten Mengen gleich auch günstiger dort – und nicht in London oder Brighton – literweise Bier zu vernichten.

Das Marktpotenzial erkennend, wurden bald die ersten Unternehmen gegründet, die den Feierwilligen die Organisation der Trips abnahmen. „Organisiertes Erbrechen“ nannte die deutsche „FAZ“ einmal nicht ganz schmeichelhaft die neu entstandene Branche.

Eine Gruppe Männer bei einem Junggesellenabschied
IMAGO/Rolf Kremming
Uniformierung per T-Shirt gehört zum fixen Repertoire

„Bier, Babes und Ballern“

Dazu gehört Pissup (dt.: Besäufnis) – einst in England gegründet, dann von zwei Dänen übernommen und mittlerweile im Besitz eines Schweizer Unternehmens. Die Firma ist laut Eigenangaben Marktführerin in Deutschland und Skandinavien, derzeit werden Trips in 30 Städte angeboten, je nach Stadt lässt sich dort aus unterschiedlichen „Freizeitangeboten“ wählen. Gegenüber dem „ZIB Magazin“ hieß es, Wien liege zunehmend im Trend. Mehr und mehr Gruppen würden sich für die Bundeshauptstadt entscheiden, Hotspot in Österreich sei aber Salzburg.

Wiewohl es auch reichlich Sport und kontemplativere Angebote gibt, scheint auf der Website besonders oft das „Bier-, Babes- und Ballern-Paket“ auf: also Besäufnis, Stripperinnen und irgendwann dazwischen entweder Paintball oder Kalaschnikow-Schießen. Die Preise pro Person für ein Wochenende hängen von Reisekosten und Preisniveau ab.

Einige Destinationen gibt es schon unter 200 Euro, osteuropäische werden mit Bus oder Bahn erreicht und kosten je nach gebuchten Paketen und Unterkunft ab 300 Euro. Ist ein Flug inkludiert, sind mindestens 550 Euro zu bezahlen. Rund 35.000 jüngere Männer nahmen vor der Pandemie pro Jahr an Pissup-Events teil. Dann brach das Geschäft ein – mittlerweile läuft es wieder wie früher.

Geschlechterklischees in allen Facetten

Während Pissup auf die angeblichen Bedürfnisse von Männern ausgerichtet ist, gibt es das Schwesterunternehmen Chamica für Frauen – und das Angebot unterscheidet sich deutlich. Es werden weit weniger Städte angeboten, statt Bier gibt es Cocktails, das Stripperangebot ist dezent auf der Website versteckt, im Mittelpunkt der Angebote stehen Wellness und Shopping.

Poltern als Wirtschaftsfaktor in Österreich

Polterreisen sind ein boomender Wirtschaftszweig geworden. Auch österreichische Städte kommen bei Poltergruppen immer besser an.

Noch deutlicher fallen die Unterschiede beim deutschen Anbieter Mister Neo auf: Dort werden für Frauen etwa Fotoshootings, Blumenkranzbinden, Töpfern und Pole-Dancing angeboten. Die Angebote für Frauen gelten zumindest in Kontinentaleuropa als ausbaubar und als Wachtumsmarkt.

Rundumpakete, Ausstatter und Apps

Nicht nur in Deutschland, wo auch viele Kleinanbieter das Geschäft gewittert haben, hat sich eine ganze Wirtschaftsbranche entwickelt. In Frankreich ist mit Crazy Voyages ein großer Anbieter herangewachsen. In Großbritannien wird Schätzungen zufolge schon jede zweite derartige Party von einer Agentur betreut, dementsprechend dicht ist das Angebot – auch für Frauen. Einer der Marktführer, Chillisauce, bietet mittlerweile mehr als 60 Destinationen an.

Doch Rundumpakete sind nur ein Teil des neu entstandenen Wirtschaftszweigs. Partyausrüster machen mit Gimmicks und T-Shirts („Team Braut“) gute Geschäfte. Andere Firmen entwickeln Apps, mit denen „Stadtrallyes“ bestritten werden. Sie bestehen vor allem aus zu lösenden Aufgaben und Partyspielen – relativ unabhängig davon, in welcher Innenstadt man sich gerade herumtreibt.

Kommerzialisierung in Österreich noch in Kinderschuhen

In Österreich ist von der Professionalisierung noch wenig zu spüren: Wer eine Polterreise ins Ausland machen will, ist auf sich selbst gestellt. Dennoch geht der Trend auch hier nach oben, egal, ob es quasi traditionell nach Prag oder Bratislava geht – oder gar in exotische Destinationen wie Abu Dhabi.

Junggesellenabschiede: Männer feiern anders

Beim Junggesellenabschied haben Männer und Frauen unterschiedliche Vorstellungen. 40 Prozent der Junggesellen wollen laut einer Internetumfrage primär wild Party machen – 60 Prozent der Frauen möchten mehrheitlich einen schönen Abend genießen.

Auf derartige Gruppenevents spezialisierte Eventunternehmen gibt es – es sind einige kleine, praktisch nur in Oberösterreich. Einige Hochzeitplaner bieten Junggesellenabschiede als Zusatzservice an, und manche Gastronomen, Eventlocations sowie Anbieter von Escape-Rooms, Raftingtouren und Paintballanlagen locken mit Sonderkonditionen, aber ohne Gesamtpakete. In mehreren Thermen wiederum werden Frauenrunden mit Angeboten umworben.

Nicht überall willkommen

Nicht überall sind die Feierwilligen willkommen. Im deutschen Regensburg formierten sich Gastronomen gegen Poltergruppen. Amsterdam startete heuer eine Kampagne gegen saufende Britinnen und Briten – die Buchungen von der Insel verdreifachten sich daraufhin. Auch ein Teil der Partyrandale, die sich alljährlich zu Pfingsten in Lignano abspielt, ist hemmungslosen Polterrunden vorwiegend aus Österreich zu verdanken.

In Berlin und Dublin setzt man touristisch eher auf noblere Angebote. Die Stadt Leipzig widmete den Feierwütigen vor einigen Jahren einen Aprilscherz und verkündete, dass „Voreheschließungsabschiedsveranstaltungen“ nur an bestimmten Tagen zu bestimmten Uhrzeiten stattfinden dürften und genehmigungs- wie gebührenpflichtig wären.

Hinsweisschild in einem Lokal weißt auf ein Verbot für Junggesellenabschiede hin
IMAGO/Manfred Segerer
Gastronomie im deutschen Regensburg nicht erfreut

Auch Unterkünfte verweigern Gruppen mitunter ein Angebot, auf Plattformen wie Airbnb und Booking weisen private Vermieter und Hotels teils explizit darauf hin, keine entsprechenden Gruppen aufzunehmen. Hohe Reinigungskosten, Probleme mit Anrainerinnen und Anrainern sowie ein wenig schonender Umgang mit dem Mobiliar werden häufig als Gründe genannt.

Peinlichkeit als Distanzierung?

Auch Passantinnen und Passanten, die häufig in das bunte Treiben einbezogen werden, reagieren unterschiedlich. Häufig müssen Braut oder Bräutigam meist witzige – soll heißen: peinliche – „Aufgaben“ erledigen und dabei Fremde behelligen oder mit Bauchladen mehr oder weniger Anzügliches an Frau oder Mann bringen – und das alles oft in erniedrigender Kostümierung. „Ritualisierte Peinlichkeit“ nennt die deutsche Kommunikationswissenschaftlerin Julia Döring diese Praktiken.

Als Erklärung liefert sie unter anderem auch recht überraschende Thesen: Die „Flucht ins Extrapeinliche“ an solchen Abenden könne auch als „selbstironische Distanzierung“ vom Partner oder der Partnerin gesehen werden. Es könnte auch als Distanzierung von der „Verbürgerlichung“ interpretiert werden, die mit der Schließung einer traditionellen Ehe einhergehe.

„Noch einmal die Sau rauslassen“

Ein düsteres Bild einer Partnerschaft impliziert die Interpretation, dass solche Erniedrigungen quasi ein Vorgeschmack auf das Eheleben seien und man damit abgehärtet werde. Die Metapher der britischen „Stag Party“ („Stag“ steht für Hirsch) wiederum legt nahe, dass sich der Mann noch einmal die Hörner abstoßen müsse. Das trifft sich tendenziell mit dem verbreiteten Motto „noch einmal die Sau rauszulassen“. Dahinter steht genau genommen wieder das biedere und wohl nicht mehr zeitgemäße Bild, dass im „braven“ Eheleben eine Form des Hedonismus nicht mehr möglich sei.

Beziehungsmarkt für die Mitfeiernden

Dem Junggesellen würden all jene Dinge, die er nach der Heirat eigentlich nicht mehr tun darf, nochmals vor Augen geführt, schreibt der deutsche Soziologe Sacha Szabo. Er fokussiert die Bedeutung des Polterabends aber auch auf die Mitfeiernden: Denn diese könnten quasi im Windschatten des Bräutigams ungeniert auf der Suche nach Partnerin oder Partner gehen.

Eine Spielart davon ist der in Teilen Österreichs und Deutschlands übliche Brauch, unverheiratete 30-Jährige zum „Zwangspoltern“ zu vergattern – traditionell eine noch etwas härtere Tortur als bei zukünftigen Eheleuten. Sind die Verkupplungsversuche beim „Zwangspoltern“ erfolgreich, steht später einer zweiten Runde nichts mehr im Wege.