Russicher Soldat in einem Panzer
APA/AFP/Andrey Borodulin
Kriegsgefangene

Russische Truppen reiben sich in Ukraine auf

Die Kämpfe nach Beginn der ukrainischen Offensive gegen die russischen Truppen dürften aktuell auf beiden Seiten hohe Verluste fordern. Der ukrainischen Armee gelingen laut Einschätzung westlicher Geheimdienste Geländegewinne, die russischen Verbände halten die Defensive. Kriegsgefangene berichteten allerdings über schlechte Moral auf russischer Seite und brutale Sanktionen. Sorge bereitet die Entlassung Tausender Söldner der Gruppe Wagner aus dem Dienst, darunter zahlreiche verurteilte Schwerverbrecher.

Laut Einschätzung der britischen Geheimdienste und des US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) konzentrieren sich die Kämpfe in der Ukraine aktuell auf die Region Saporischschja. Die russischen Truppen hätten dort in den letzten Tagen wahrscheinlich die größten Verluste seit den Gefechten um die Stadt Bachmut im März erlitten. Allerdings seien die Verluste auch auf ukrainischer Seite hoch, hieß es in einem Bericht des britischen Verteidigungsministeriums am Wochenende.

Laut Einschätzung des ISW vom Montag machten die ukrainischen Truppen „begrenzte“ Geländegewinne, den russischen Verbänden gelängen relativ oft erfolgreiche „Defensiveinsätze“, hieß es zuletzt aus London. Zahlen zu möglichen Verlusten auf beiden Seiten nannte das britische Verteidigungsministerium, das tägliche eine Lageeinschätzung zu den Kämpfen in der Ukraine veröffentlicht, nicht.

Brutale Sanktionen bei Rückzug

Glaubt man einem Bericht des „Wall Street Journal“, kämpfen die russischen Verbände in der Ukraine zunehmend mit schlechter Moral, Soldaten, die sich ergeben, würden im äußersten Fall von Angehörigen der eigenen Truppe getötet.

Zerstörte Gebäude in Bachmut
Reuters/Kholodnyi Yar Brigade
Vor allem die Kämpfe um die Stadt Bachmut forderten unzählige Opfer auf beiden Seiten

Die Versorgungslage sei schlecht, die Soldaten ausgelaugt, eine Rotation in der kämpfenden Truppe finde praktisch nicht statt, berichtete die US-Zeitung zuletzt nach Interviews mit russischen Kriegsgefangenen.

Sie berichteten von „Sperreinheiten“ („barrier troops“), eingesetzt hinter der Front, um den Rückzug bzw. die Desertion zu verhindern. Diese würden Soldaten, die vor den Kämpfen fliehen bzw. sich ergeben wollten, erschießen. Solche Truppen wurden von der damaligen Sowjetunion bereits im Zweiten Weltkrieg eingesetzt.

„Sperrtruppen“ sollen auf eigene Soldaten schießen

Das „Wall Street Journal“ sprach mit russischen Kriegsgefangenen, die sich in den letzten Wochen der ukrainischen Armee ergeben hatten. Wehrpflichtige würden als ersetzbar angesehen, russische Offiziere beorderten Verletzte, als dienstuntauglich eingestuft, zurück an die Front.

Die „Sperrtruppen“ drohten damit, auf ihre eigenen Soldaten zu schießen, um sie zu Angriffen zu zwingen. Kürzlich kursierten Videos mit entsprechenden Szenen. Deren Authentizität ist allerdings – wie die vieler Berichte aus dem Krieg in der Ukraine – nicht gesichert.

Mangel an Soldaten und Material

Die Kriegsgefangenen berichteten außerdem von Schwierigkeiten der russischen Armee, ihre Einheiten in der Ukraine mit Material und Personal zu versorgen. Es fehle an Nachschub, es gebe Probleme damit, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge zu besetzen. Das „Wall Street Journal“ zeigte Bilder der russischen Soldaten mit Schussverletzungen, Verbänden, barfuß auf dem Asphalt, bewacht von ukrainischer Militärpolizei.

Kampfunfähig zurück an die Front

Angriffe auf die russischen Linien hätten auf beiden Seiten hohe Verluste gefordert, berichtete das „Wall Street Journal“, mehr auf russischer als auf ukrainischer Seite. Die US-Zeitung nannte die russischen Kriegsgefangenen nur mit dem Vornamen, einzelne davon hatten sich laut eigenen Aussagen freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet und in den Kämpfen schließlich freiwillig ergeben. Einer berichtete, er sei kampfunfähig durch eine Verwundung zurück an die Front geschickt worden, ein anderer erzählte von Chaos und Angst während der Gefechte.

„Die Moral ist eher schlecht“

Einer der Kriegsgefangenen, interniert in der Stadt Kramatorsk, berichtete, seine Einheit hätte längst abgelöst werden sollen, „auf dem Papier“ sei das bereits vor einem Monat passiert, aber nicht in der Realität. Es habe praktisch keine Rotationen zwischen den Soldaten an der Front und denen dahinter gegeben. Die Folge: „Die Moral ist eher schlecht“, zitierte ihn das „Wall Street Journal“.

Ukrainische Soldaten mit einem russischen Kriegsgefangenen
Reuters/RFE/RL/Serhii Nuzhnenko
Ukrainische Soldaten versorgen einen russischen Gefangenen mit Wasser

Der Mann schilderte weiter, dass er nach seiner Rekrutierung kaum eine Ausbildung erhalten habe, lediglich etwas Schießtraining und eine Basisausbildung in Erster Hilfe. Seine Einheit, eingesetzt in der Region Donezk, habe keine Fahrer mehr für Panzer bzw. gepanzerte Fahrzeuge gehabt, nach einem schweren Angriff der ukrainischen Truppen mit Fahrzeugen aus US-Produktion ergab er sich nach eigenen Worten. „Ich habe nicht gewusst, was ich tun soll, ich hatte Angst, war in Panik.“ Einen Gefangenenaustausch wünsche er sich aus Angst vor dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB nicht.

Wagner schickt Ex-Sträflinge nach Hause

Eine wesentliche Rolle in den Kämpfen um die Stadt Bachmut hatte in den letzten Monaten die Söldnertruppe Wagner gespielt. Sie hatte intensiv in russischen Gefängnissen Straftäter für den Krieg in der Ukraine rekrutiert, mit der Aussicht auf eine Amnestie danach.

Mittlerweile sollen 32.000 Mann nach Russland zurückgekehrt sein, darunter viele verurteilte Schwerverbrecher. Die Männer hätten ihren Vertrag erfüllt, sagte zuletzt der Kommandeur der Privatarmee, Jewgeni Prigoschin. Voraussetzung für eine Begnadigung war ein sechsmonatiger Kampfeinsatz in der Ukraine.

Kreml hält an Prigoschin fest

Prigoschin gilt als enger Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Trotzdem hatte er in den letzten Monaten, vor allem während der Kämpfe um Bachmut, den Kreml und Russlands Verteidigungsminister Sergej Schoigu mehrfach verbal hart und mitunter mit derben Worten attackiert und beiden vorgeworfen, seine Söldner mit Nachschub im Stich zu lassen.

Im März hatte Prigoschin die Zahl der entlassenen Ex-Häftlinge aus den Wagner-Reihen mit 5.000 angegeben. Nach der Eroberung der ostukrainischen Stadt Bachmut hatte er auch mitgeteilt, dass er bei den Kämpfen dort 20.000 Männer verloren habe, davon allein 10.000 Ex-Häftlinge. Das russische Verteidigungsministerium soll weiter in Strafanstalten rekrutieren, Putin hält – trotz dessen Verbalattacken – bisher weiter an Prigoschin fest, wohl auch, weil er auf dessen Unterstützung angewiesen ist.