Schwertwal
Getty Images/slowmotiongli
Rätselhafte Angriffe

Orca-Attacke nun auch vor Shetlandinseln

Die rätselhaften Orca-Angriffe sind nun um eine mysteriöse Facette reicher: Erstmals ist ein Boot von einem Orca vor den Shetlandinseln angegriffen worden, wie britische Medien nun berichtet haben. Bisher hatten sich diese Interaktionen der Meeressäuger mit den Booten auf die iberische Atlantikküste beschränkt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tappen im Dunkeln. Es gibt allerdings zahlreiche Spekulationen über den Auslöser der mysteriösen Attacken und warum sie sich in den letzten Monaten derart häuften.

Die jüngste Interaktion fand nun außerhalb der bisherigen Zone der Angriffe statt. Ein Orca rammte wiederholt eine Jacht in der Nordsee vor den Shetlandinseln – eine besorgniserregende Entwicklung, wie der „Guardian“ am Mittwoch schrieb. Es sei das gleiche Verhalten, das auch vor der iberischen Atlantikküste beobachtet worden war, es sei jedoch das erste Mal, dass es in nördlichen Gewässern auftritt, so der „Guardian“.

Die Tatsache, dass dieses erlernte Verhalten fast 3.000 Meilen (4.800 km) von Gibraltar entfernt aufgetreten ist, sorgt für Verwunderung, so der „Guardian“. Meistens nimmt bei den Interaktionen nur das Boot und nicht die Besatzung Schaden, so der Westdeutsche Rundfunk (WDR). Für die Menschen an Bord sei es aber trotzdem ein beängstigendes Erlebnis, so der WDR.

„Sehr lautes Atmen“ machte am meisten Angst

Im Falle der Shetland-Attacke war das Segelboot von Lerwick nach Bergen in Norwegen unterwegs, so der „Guardian“. Wim Rutten, ein pensionierter niederländischer Physiker und erfahrener Segler, habe Makrelen mit einer einzigen Leine am Heck des Bootes gefischt, als der Orca plötzlich im klaren Wasser auftauchte und gegen das Heck des sieben Tonnen schweren Bootes prallte.

Der Wal habe immer wieder zugeschlagen und „sanfte Stöße“ durch den Aluminiumrumpf erzeugt, schildert Rutten sein Erlebnis dem „Guardian“. „Was mir am meisten Angst machte, war das sehr laute Atmen des Tieres“, so Rutten weiter. Der Orca sei hinter dem Boot „auf der Suche nach dem Kiel“ gewesen. Dann sei er verschwunden und sei aber mit hoher Geschwindigkeit zurückgekehrt – das sei zwei- oder dreimal passiert. Der Orca habe auch ein wenig um das Boot gekreist.

Orca neben einem Segelboot
Getty Images/Stuart Westmorland
Ein Orca in der Nähe eines Segelbootes

Attacken nehmen weiter zu

Die Interaktionen haben 2020 entlang der spanischen Atlantikküste begonnen, vor allem zwischen Cadiz und dem marokkanischen Tanger. Dort halten sich besonders viele Schwertwale auf, weil ihr Lieblingsfutter, der Blauflossenthunfisch, im Frühling zum Laichen ins Mittelmeer schwimmt. Die Tierschutzorganisation GT Orca Atlantica (GTOA) sprach von 500 Attacken von 2020 bis 2022.

Dieses Jahr häuften sich Medienberichte über Orca-Attacken, es soll bereits Dutzende gegeben haben. Gerne greifen die Orcas offenbar die Ruder an, wie einige Fälle zeigen. Einige Boote wurden auch derart beschädigt, dass sie abgeschleppt werden mussten. Ein Boot ging Anfang Mai vor Cadiz in Spanien gar unter. Es sei „nicht wirklich lustig“ gewesen, wurde der Skipper damals in Schweizer Medien zitiert. Neben der Meerenge von Gibraltar gab es dieses Jahr bereits Zwischenfälle vor der Küste Portugals und in der spanischen Region Galicien.

Die von einem Orca bei Gibraltar beschädigte Ruderanlage eines Bootes
APA/AFP/Jorge Guererro
Die von einem Orca bei Gibraltar beschädigte Ruderanlage eines Bootes

Forschung diskutiert mehrere Möglichkeiten

Die Attacken geben Forscherinnen und Forschern Rätsel auf. So könnten die Orcas mit den Attacken einfach etwas Neues erfunden haben. Die Tiere gelten als hochintelligent, neugierig und sozial, und sie lernen auch von ihren Artgenossen. Fachleute haben bereits zuvor Orca-Gruppen beobachtet, die Gewohnheiten entwickelt haben.

Auch die Reaktion von Orcas auf ein negatives Erlebnis, eine schlechte Erfahrung, könnte hinter den Interaktionen stecken. So könnte die schlechte Erfahrung etwa einen Schutzinstinkt auslösen. Ausgeschlossen wird allerdings auch nicht, dass die Orcas nur spielen, also einfach nur Spaß haben wollen. Zuerst hätten junge Orcas mit dem Spiel begonnen, ältere hätten das dann nachgemacht, so eine Hypothese.

WWF: Wir wissen einfach sehr wenig

Auch zirkuliert die Spekulation, dass es sich bei den Angreifern und Angreiferinnen um die Mitglieder einer einzigen Orca-Familie handelt, die das Verhalten ihrer Anführerin nachahmten.

Doch offenbar fehlt es noch an Daten, um den Grund für das Verhalten der Orcas einschätzen zu können. „Wir wissen einfach sehr wenig über die Gründe dieser Interaktionen“, so Jose Luis Garcia Varas, der das Meeresschutzprogramm der Umweltorganisation WWF in Spanien leitet.

GTOA erklärt auf ihrer Website, dass Orcas eigentlich Delfine sind und ihre Bezeichnung als „Killerwale“ völlig falsch ist, da sie keine Menschen fressen. Die Tiere in den spanischen Gewässern sind eine Untergruppe der Orcas und mit bis zu 6,5 Metern deutlich kleiner als ihre arktischen Verwandten, die bis zu neun Meter lang werden können.

Film schädigte Ruf

Die spanische Regierung hat Iberische Orcas 2011 als bedrohte Tierart eingestuft. Seit 2019 stehen sie auch auf der roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN). Nicht wenig zum schlechten Ruf der Orcas hat auch der Film „Orca, der Killerwal“ aus dem Jahr 1977 beigetragen. Gedreht wurde er im Zuge des Blockbustererfolges „Der Weiße Hai“ von 1975, er sollte diesen in Sachen gefährliches Tier auch noch übertrumpfen.

In dem Film befindet sich ein Orca auf einem Rachefeldzug, damit fließen auch noch Elemente des umstrittenen Selbstjustizthrillers „Ein Mann sieht Rot“ mit Charles Bronson von 1974 – ebenfalls ein Welterfolg mit mehreren Fortsetzungen – in die Handlung ein. Ein positiveres Verhältnis zwischen Orca und Mensch zeichneten Mitte der 1990er Jahre der Film „Free Willy“ und seine Fortsetzungen.