Wagner-Kämpfer in Bachmut
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Streit eskaliert

Wagner-Gruppe wendet sich gegen Russland

Der seit Monaten schwelende Konflikt zwischen dem russischen Söldnerführer Jewgeni Prigoschin und der Militärführung ist eskaliert. Kämpfer von Prigoschins Söldnertruppe Wagner marschierten nach dessen Worten in der Nacht auf Samstag in Russland ein.

Laut Prigoschin sind seine Kämpfer in der Region Rostow am Don im Süden Russlands eingerückt. Beweise für seine Angaben legte er nicht vor, der Wahrheitsgehalt ließ sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Seine Truppen würden „alles zerstören“, was sich ihnen in den Weg stelle, warnte der Söldnerführer. „Wir machen weiter, wir gehen bis zum Ende.“

Wenig später sagte Prigoschin per Audiobotschaft, seine Kampfverbände hätten einen russischen Armeehubschrauber abgeschossen. „Gerade hat ein Helikopter das Feuer auf eine zivile Kolonne eröffnet, er wurde von den Wagner-Einheiten abgeschossen“, sagte Prigoschin in der Audiobotschaft, die in der Nacht auf Samstag veröffentlicht wurde.

„Das Böse muss gestoppt werden“

Prigoschin hatte zuvor den Vorwurf erhoben, Verteidigungsminister Sergej Schoigu habe Raketenangriffe auf Lager der Wagner-Söldner angeordnet, bei denen zahlreiche Kämpfer getötet worden seien. „Wir sind 25.000“, warnte Prigoschin und rief die russische Bevölkerung auf, sich seinen Truppen anzuschließen. „Das Böse, das die Militärführung des Landes anrichtet, muss gestoppt werden.“

Der Wagner-Chef hatte zuvor bereits den Darstellungen des Kreml widersprochen, die ukrainische Gegenoffensive sei fehlgeschlagen. „Die russische Armee zieht sich in den Gebieten von Saporischschja und Cherson zurück, die ukrainischen Truppen stoßen vor“, sagte Prigoschin in einem Onlinevideo. Das Gleiche passiere in Bachmut.

Moskau bestreitet Angriffe

„Wir waren bereit, Zugeständnisse an das Verteidigungsministerium zu machen, unsere Waffen abzugeben“, sagte Prigoschin. Dennoch hätten „sie Raketenangriffe auf unsere hinteren Feldlager ausgeführt“. Die Attacke habe mit Artillerie, Hubschraubern und Raketen stattgefunden. Der Wagner-Chef gelobte, auf die Angriffe zu „antworten“ und die russische Militärführung zu „stoppen“. „Wer versucht, uns Widerstand zu leisten, den werden wir als Bedrohung betrachten und sofort töten“, drohte Prigoschin.

Wagner-Chef Prigoschin mit Truppen
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Schon länger gibt es einen Machtkampf zwischen dem Kreml und Prigoschin (rechts)

Das Dementi aus Moskau kam umgehend. Schoigu bestritt Angriffe auf die Wagner-Söldner. Die Berichte „stimmen nicht mit der Realität überein“ und seien eine „Provokation“, hieß es. „Die russischen Streitkräfte führen weiter Kampfaufträge“ in der Ukraine durch, fügte das Ministerium hinzu.

Verbündeter Armeegeneral wendete sich ab

Prigoschins Angaben nach ist Schoigu extra an die nahe der ukrainischen Grenze gelegene Millionenstadt Rostow am Don gekommen, um die Operation zur Vernichtung Wagners zu leiten. „Um 21.00 Uhr ist er geflohen – feige wie ein Weib –, um nicht zu erklären, warum er Hubschrauber hat abheben und Raketenschläge durchführen lassen, um unsere Burschen zu töten. Dieses Biest wird aufgehalten“, so Prigoschin.

Der wichtige russische Armeegeneral Sergej Surowikin schlug sich auf die Seite des Machtapparats in Moskau. Der Vizechef des russischen Generalstabs rief Prigoschin in einer Videobotschaft dazu auf, den Machtkampf zu beenden. „Der Gegner wartet nur darauf, bis sich bei uns die innenpolitische Lage zuspitzt“, sagte Surowikin in einer am Freitagabend verbreiteten Videobotschaft. Surowikin gilt eigentlich als Verbündeter Prigoschins, entschied sich nun aber allem Anschein nach zur Loyalität dem Kreml gegenüber. „Wir dürfen nicht dem Gegner in die Hände spielen – in dieser für das Land schweren Zeit.“

Ermittlungen wegen „bewaffneten Aufstands“

Die russische Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen „bewaffneten Aufstands“ auf. Der Inlandsgeheimdienst FSB warf Prigoschin einen Aufruf zur Rebellion vor und forderte dessen Kämpfer auf, ihren Chef gefangen zu nehmen, wie russische Agenturen meldeten. Laut Generalstaatsanwaltschaft drohen Prigoschin zwischen zwölf und 20 Jahren Haft.

Präsident Wladimir Putin sei über die Entwicklungen unterrichtet, sagte dessen Sprecher Dmitri Peskow. „Notwendige Maßnahmen“ würden ergriffen. In Moskau wurden laut Staatsmedien die Sicherheitsvorkehrungen verschärft. In Lokalmedien veröffentlichte Amateurvideos zeigten gepanzerte Fahrzeuge an zahlreichen Orten der Hauptstadt, unter anderem auch vor dem Verteidigungsministerium.

US-Regierung alarmiert

Die US-Regierung beobachtete die Entwicklungen nach Angaben eines Sprechers aufmerksam. „Wir verfolgen die Lage und werden uns mit Alliierten und Partnern über diese Entwicklungen abstimmen“, sagte ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Präsident Joe Biden sei informiert. Die rivalisierenden russischen Truppen seien dabei, „sich im Kampf um Macht und Geld gegenseitig zu zerfleischen“, kommentierte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow.

Streit bahnte sich an

Die zu einem beträchtlichen Teil aus russischen Gefängnissen rekrutierten Wagner-Söldner spielten in den vergangenen Monaten vor allem bei der langwierigen und verlustreichen Einnahme der Stadt Bachmut in der ostukrainischen Region eine wichtige Rolle. Gleichzeitig entwickelte sich Söldner-Chef Prigoschin – frustriert über Nachschubprobleme und nach seinen Angaben mangelnde Unterstützung durch Moskau – zu einem der vehementesten Kritiker der militärischen Führung Russlands. Immer wieder attackierte er Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.

Luftalarm in der Ukraine

In der Ukraine wurde indes in der Nacht auf Samstag im ganzen Land Luftalarm ausgelöst. Aus mehreren Städten gab es in der Folge Berichte über Explosionen. Im ostukrainischen Charkiw habe es mindestens drei Einschläge gegeben, unter anderem in eine Gasleitung, woraufhin ein Feuer ausgebrochen sei, schrieb Bürgermeister Ihor Terechow auf Telegram. Aus der Hauptstadt Kiew hieß es, Raketenteile seien auf einen Parkplatz in einem zentralen Bezirk gestürzt.

Korrespondenten vom nationalen Rundfunk Suspilne Media berichteten zudem, dass Explosionen auch in den Städten Dnipro und Krementschuk zu hören gewesen seien. Russland hat sein Nachbarland vor 16 Monaten überfallen. Zuletzt hatten sich die Raketen- und Drohnenangriffe vor allem auf die Hauptstadt Kiew gemehrt.