der russische Präsident Wladimir Putin
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Folgen für Krieg?

Wagner-Machtkampf schwächt Putin

Der schwelende Konflikt zwischen der Söldnertruppe Wagner und dem Kreml hat am Samstag mit einem Aufstand seinen Höhepunkt erreicht. Dass Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin wenig später seine Truppen rückbeorderte, täuscht laut „Guardian“ aber nicht darüber hinweg, dass Wladimir Putin noch nie so geschwächt gewesen sei. Der Konflikt könnte auch den weiteren Kriegsverlauf beeinflussen.

Die Fachleute des britischen Verteidigungsministeriums hatten den Konflikt zunächst als größte Bedrohung für den russischen Staat in der jüngsten Zeit eingestuft. Der britische Militärexperte Lawrence Freedman sah in dem Marsch der Wagner-Söldnertruppe auf Moskau zwar keinen Putsch oder Aufstand. „Es handelt sich aber sehr wohl um eine Meuterei“, schrieb der frühere Professor für Militärstudien am King’s College in London in seinem Blog.

Das Vorgehen Prigoschins sei eine „klare Kampfansage an die militärische und die politische Führung des Landes“ gewesen, so Gerhard Mangott, österreichischer Politikwissenschaftler, im Gespräch mit der APA. Der Kreml habe Mühe gehabt, eine kohärente Antwort auf den Aufstand zu formulieren, was „die Schwächen der internen Sicherheit“ sichtbar gemacht habe, so das Institute for the Study of War (ISW) in seiner jüngsten Analyse des Konflikts.

Wagner-Chef Prigoschin
APA/AFP
Seit Monaten kritisiert Prigoschin öffentlichkeitswirksam das Vorgehen des Kreml

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Samstag, der Aufstand der Wagner-Söldnertruppen in Russland zeige das völlige Chaos im Lande. „Heute kann die Welt sehen, dass die Herren in Russland nichts kontrollieren. Und das bedeutet nichts. Einfach ein völliges Chaos. Ein Fehlen jeglicher Vorhersehbarkeit“, sagte er in seiner abendlichen Videoansprache.

ORF-Sondersendungen

Der ORF ändert wegen der aktuellen Entwicklungen im Ukraine-Konflikt bzw. in Russland am Sonntag sein Programm und sendet mehrere ZIB-Sonderausgaben. Um 22.15 Uhr gibt es ein „Im Zentrum“ zum Thema „Chaos im Kreml – wie sehr wackelt Putins Herrschaft?“.

Monatelange Fehde spitzte sich zu

Prigoschin hatte am Freitagabend in mehreren Audiobeiträgen im Kurznachrichtendienst Telegram die offizielle Begründung Russlands für den Krieg in der Ukraine als Lügengeschichte bezeichnet und Verteidigungsminister Sergej Schoigu beschuldigt, einen Militärangriff zur Zerstörung seiner Söldnertruppe Wagner angeordnet zu haben. In einem anderen Telegram-Kanal wurde ein Video veröffentlicht, in dem von einem Raketenangriff des russischen Militärs auf Wagner-Einheiten die Rede ist.

Kämpfer der von Prigoschin geführten Söldnertruppe hatten in der Folge die Grenze nach Russland überquert und am Samstag die militärischen Einrichtungen in Rostow und in der Stadt Woronesch 500 Kilometer südlich von Moskau kontrolliert. Knapp vor der russischen Hauptstadt hatte Prigoschin seine Truppen in ihre Stützpunkte zurückbeordert. Damit wolle er Blutvergießen vermeiden, hieß es in einer Audiobotschaft von Prigoschin am Samstag. Der Kreml bestätigte eine Vereinbarung mit dem Wagner-Chef.

Verteidigungsminister Shoigu
AP/Russian Defense Ministry Press Service
Der russische Verteidigungsminister Schoigu ist das Ziel schwerer Vorwürfe Prigoschins

Phillips O’Brien, Professor für strategische Studien an der schottischen Universität St. Andrews, vermutete in einem Posting in Twitter, dass der vermeintliche Putschversuch Prigoschins wohl von längerer Hand geplant worden war, als es zunächst den Anschein erweckt habe. Darauf würden „der Zeitpunkt, die Platzierung der Kräfte, der bisherige Verlauf des Putsches und die Reaktion des russischen Staates“ schließen lassen.

International Besorgnis wegen Entwicklungen

International hatte die weitere Eskalation im Ukraine-Krieg Besorgnis hervorgerufen. Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sah im gewaltsamen Aufstand der Söldnertruppe Wagner einen Beweis dafür, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zu „Instabilität“ im eigenen Land führe. Die jüngsten Entwicklungen in Russland würden aufmerksam verfolgt, hieß es in einer Mitteilung ihres Büros.

Internationale Reaktionen auf den Machtkampf in Russland

Die Krisendiplomatie ist ohne Zweifel im Hintergrund auf Hochtouren gelaufen. US-Präsident Joe Biden hat mit den Verbündeten in Paris, London und Berlin Gespräche geführt, die wohl auch am Sonntag weitergehen werden.

Angesichts der dramatischen Ereignisse in Russland berief Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) für Sonntag das Krisenkabinett ein. Das berichtete ein Sprecher des Regierungschefs Samstagabend der APA. Bei der Sitzung werden neben Kanzler und Vizekanzler unter anderen Verteidigungsministerin, Außenminister und Innenminister zusammentreffen. Für die kommenden Tage ist eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats geplant. Diese hatte davor die SPÖ eingefordert.

Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, sagte, er beobachte die Situation in Russland „genau“ und stehe in Kontakt mit anderen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und G-7-Partnern. „Das ist eindeutig eine interne russische Angelegenheit“, so Michel auf Twitter. Zudem sei die Unterstützung der EU für die Ukraine und ihren Präsidenten „unerschütterlich“.

Panzer und Wagner Soldaten in Rostow
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Panzer und Wagner-Soldaten in Rostow

Erinnerungen an Putsch 1991

Prinzipiell erwecke der Streit Erinnerungen an den gescheiterten Putsch im Sommer 1991, verwies der „Guardian“ auf den von Hardlinern des sowjetischen KGB inszenierten Aufstand, um die bereits schwächelnde kommunistische Macht zu erhalten. Er schlug zwar fehl, beschleunigte aber den Untergang der Sowjetunion, der im Dezember 1991 erfolgte.

Machtkämpfe in Russland als Tradition

Seit über 20 Jahren hat sich Wladimir Putin in Russland als Garant für Sicherheit und Stabilität inszeniert. Machtkämpfe, Putschversuche und politische Intrigen haben in Russland eine lange Tradition.

Es sei zu früh, um zu sagen, ob sich die Geschichte wiederholen werde, schrieb der „Guardian“ weiter. Denn Prigoschin habe keine friedensstiftenden Absichten, sondern wolle den Feldzug in der Ukraine anders durchführen. Dennoch sei bereits klar, dass Putin in seiner gesamten Präsidentschaft seit 2000 noch nie so schwach dagestanden war. Der russische Präsident habe die eigene Herrschaft destabilisiert statt gestärkt, so die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“). Das Kriegsziel rücke so „in weite Ferne“.

Die Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, habe sich als „größter Fehler in seiner Karriere“ erwiesen, der ihn früher oder später aus dem Amt drängen könnte. Selbst, wenn die Rebellion schnell scheitere, würde der Schock noch monatelang nachwirken und die politische Instabilität in Russland weiter anheizen, so der „Guardian“.

der russische Präsident Wladimir Putin  bei einer Rede
AP/Russian Presidential Press Service
In einer Rede am Samstag hatte Putin das Vorgehen der Söldner als Verrat bezeichnet

Folgen für russische Kampfmoral?

Der ukrainische Vizeaußenminister Andrij Melnyk sprach von einer Chance für sein Land im Krieg gegen Russland. „Der Prigoschin-Aufstand, und zwar egal, wie er ausgeht, bietet eine einmalige Chance für die ukrainische Armee, unsere Gegenoffensive mit neuem Elan voranzutreiben“, sagte der ehemalige Botschafter in Deutschland dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) einem Vorabbericht zufolge.

„Aber dieser neue Kampfgeist allein wird für die Befreiung all der besetzten Gebiete leider nicht ausreichen.“ Melnyk rief „zuallererst Deutschland“ auf, die Militärhilfe nun deutlich zu erhöhen.

Aktuell habe die Fehde wohl keine Auswirkungen auf das militärische Geschehen, sie könnte sich aber langfristig auf die Kampfmoral der russischen Soldaten auswirken, so ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz in der ZIB. Wenn die Moral an der russischen Front zusammenbreche und die Soldaten nicht mehr bereit seien zu kämpfen, könnte der Boden schnell eingenommen werden, so auch der „Guardian“.

Historiker glaubt an sukzessive Beendigung des Krieges

Der aus St. Petersburg stammende Historiker Alexander Etkind maß dem Aufstand in Russland im Gespräch mit der APA mit Blick auf den Ausgang des Krieges eine große Bedeutung bei. An eine schnelle Beendigung der Auseinandersetzung glaubte Etkind nicht.

„Diese Variante existierte bis zum Auftritt von Putin, der alle Karten in der Hand hatte und der Schoigu zum Sündenbock hätte machen können und eine Einigung finden“, erklärte er. Der Professor an der Central European University (CEU) in Wien rechnete zudem damit, dass die aktuellen Ereignisse das Ende Russlands in seiner aktuellen Form einleiten könnten.

Überrascht über die Entwicklungen müsse man nicht sein, schreibt die US-polnische Historikerin Anne Applebaum im „Atlantic“. Seit Jahren habe Putin alle Probleme seines Landes auf den Westen und die NATO geschoben und die Schwächen seines Landes und seiner Armee hinter einer Fassade aus „Prahlerei, Arroganz“ und Appellen an einen „falschen weißen christlichen Nationalismus“ verborgen. Jetzt stehe er einer Bewegung gegenüber, die nach den wahren Werten des modernen russischen Militärs und des modernen Russlands lebe.