Wagner-Söldner in Rostow
IMAGO/TASS/Erik Romanenko
Vorstoß und Rückzug

Wagner-Aktion hinterlässt offene Fragen

Der Konflikt zwischen Präsident Wladimir Putin und dem Chef der Söldnertruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, ist am Samstag eskaliert. Prigoschins Einheiten brachten Militäreinrichtungen im Süden des Landes, nahe der Grenze zur Ukraine, unter ihre Kontrolle. Eine bewaffnete Wagner-Kolonne brach Richtung Moskau auf und machte Fortschritte – sie und auch alle anderen Truppen wurden am Samstagabend aber von Prigoschin überraschend wieder zurückbeordert. Es bleiben offene Fragen.

„Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück“, sagte Prigoschin in einer von seinem Pressedienst in Telegram veröffentlichten Sprachnachricht zur Überraschung aller Beobachter und Beobachterinnen. Bisher sei „nicht ein Tropfen Blut unserer Kämpfer“ vergossen worden, „jetzt ist der Moment gekommen, wo Blut vergossen werden könnte.“ Deshalb sei es an der Zeit, die Kolonnen umdrehen zu lassen, hieß es.

Zuvor hatte der Pressedienst des belarussischen Machthabers, Alexander Lukaschenko, mitgeteilt, dass dieser Prigoschin nach Absprache mit Putin überzeugt habe, aufzugeben. Prigoschin erwähnte Lukaschenko in seiner Sprachnachricht nicht ausdrücklich. Es blieb unklar, welche Zugeständnisse Prigoschin gemacht oder in Aussicht gestellt wurden, um den Vormarsch auf Moskau zu stoppen. Auch blieb unklar, wieso Lukaschenko als „Vermittler“ eingesetzt wurde.

Keine strafrechtliche Verfolgung

Und auch was am Abend aus dem Kreml verlautete, lässt einige Fragen offen: Glaubt man den Angaben des russischen Präsidialamts, werden Prigoschin und seine Gefolgschaft straffrei bleiben. Es sei ein Abkommen getroffen worden, um weitere Verluste zu vermeiden, hieß es aus dem Kreml.

Nach dem von Minsk vermittelten Rückzug der Wagner-Kämpfer werde Prigoschin sich nach Belarus begeben und müsse kein Strafverfahren in Russland fürchten, hieß es weiter. Die Behörden hatten bereits seit Freitagabend gegen den mit Staatsaufträgen reich gewordenen Oligarchen ermittelt und drohten ihm mit einer Haftstrafe von zwölf bis 20 Jahren.

Yevgeny Prigozhin bei seinem Abzug aus Rostov
Reuters/Alexander Ermochenko
Prigoschin hielt sich bis zuletzt in Rostow auf, nun soll er laut Kreml nach Belarus – das Bild wurde nach dem Ende des Aufstands aufgenommen

Kreml: Deal umfasst keine personellen Veränderungen

Auch zeigte sich am Abend, dass sich Prigoschins Söldner auch wieder aus den von ihnen besetzten Militäreinrichtungen in der Millionenstadt Rostow am Don zurückzogen. Dort befindet sich das Hauptquartier des russischen Militärbezirks Süd – eine Kommandozentrale für den Krieg gegen die Ukraine.

Bilder zeigen, wie sich die Kämpfer von der örtlichen Bevölkerung feiern ließen. Am Ende bleibt die zentrale Frage, wieso die Eskalation mit derartiger Vehemenz vorangeführt wurde, um wenige Stunden danach wieder einzulenken – und seitens der Gegenseite gar rasch einen Deal zu verkünden.

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Apropos Deal: Personelle Veränderungen im russischen Verteidigungsministerium seien nach den Worten von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nicht Teil der Vereinbarung zur Beendigung des bewaffneten Aufstands gewesen. Diese stünden allein in der Macht des russischen Präsidenten und Oberbefehlshabers der Streitkräfte, Putin. „Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass diese Themen diskutiert wurden“, gab Peskow an. Entsprechende Gerüchte hatten zuvor die Runde gemacht.

Bericht: Prigoschin soll Vorbereitungen getroffen haben

Ungeachtet dessen gehen US-Geheimdienste einem Bericht zufolge davon aus, dass Prigoschin bereits seit einiger Zeit Vorbereitungen für eine Aktion gegen die russische Militärführung traf. Er soll Waffen und Munition in der Nähe der Grenze zu Russland angehäuft haben, wie der Sender CNN unter Berufung auf namentlich ungenannte Quellen aus Geheimdienstkreisen berichtete.

Das Ziel dieser Planungen sei aber unklar gewesen. Eine mit den Geheimdienstinformationen vertraute Person sagte dem US-Sender zufolge, dass „alles sehr schnell“ gegangen und es schwierig zu erkennen gewesen sei, was Prigoschin plane.

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„Marsch der Gerechtigkeit“

Der seit Monaten schwelende Machtkampf zwischen Prigoschin und der russischen Armeeführung war in der Nacht zum Samstag eskaliert. Prigoschin beschuldigte Verteidigungsminister Sergej Schoigu, den Befehl zu einem Angriff auf ein Militärlager der Wagner-Truppe gegeben zu haben. Die Einheit hatte in Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine an der Seite regulärer russischer Truppen gekämpft und eine wichtige Rolle etwa bei der Eroberung der Stadt Bachmut im östlichen Gebiet Donezk gespielt. Allerdings gab es seit Monaten Streit um Kompetenzen und Munitionsnachschub.

Nach dem angeblichen Angriff auf das Wagner-Lager – den das Verteidigungsministerium prompt dementierte – kündigte Prigoschin einen „Marsch der Gerechtigkeit“ an, um die Verantwortlichen in Moskau zu bestrafen. Prigoschins Angaben nach befanden sich die Spitzen seiner Einheiten zuletzt nur noch rund 200 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt.

Menschenmenge neben Panzer in Rostow
Reuters
Menschenmenge neben einem Wagner-Panzer in Rostow

Die mehreren tausend Wagner-Kämpfer waren für Moskau bisher eine der wichtigen Gruppen im Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am Samstag genau 16 Monate dauerte. Prigoschin wirft dem russischen Verteidigungsministerium seit Langem falsche Taktik und schlechte Führung vor. Seine Kritik richtete sich bisher vor allem gegen Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow – Putin sparte er aus. Nun hielt er jedoch auch dem Kreml-Chef vor, sich schwer zu irren. Unklar war zunächst, welche Auswirkungen der innerrussische Konflikt auf den Kriegsverlauf hat.

Putin: Prigoschin „Verräter“

Prigoschin galt bisher als Vertrauter Putins. Bisher konnte er sich Kritik erlauben, für die andere längst bestraft worden wären. Am Samstagmorgen jedoch bezeichnete Putin seinen Ex-Vertrauten Prigoschin als „Verräter“. „Das ist ein Stoß in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes“, sagte Putin.

Wer Waffen erhebe und bewaffneten Aufstand organisiere, werde bestraft, sagte er in seiner TV-Ansprache noch, am Abend desselben Tages wurde vom Kreml das Ende der strafrechtlichen Verfolgung verlautbart – gegen Prigoschin und alle seine Mitstreiter. Dabei warf der Söldnerchef Putin noch zu Mittag vor, die Lage völlig falsch einzuschätzen. „Der Präsident irrt sich schwer“, sagte er in einer Sprachnachricht in seinem Telegram-Kanal.

Die eigene Rolle beschrieb er mit den Worten: „Wir sind Patrioten unserer Heimat.“ Prigoschin kündigte an, „Korruption, Lügen und Bürokratie“ in Russland zu beenden. Damit forderte der Söldnerchef, der nach eigenen Angaben über etwa 25.000 Kämpfer verfügt, erstmals auch Putin offen heraus. Die russischen Streitkräfte haben etwa 1,5 Millionen Angehörige.

24-Stunden-Revolte beendet

In der Nacht auf Samstag hat sich der Chef der Wagner-Söldnertruppe, Jewgeni Prigoschin, offen gegen den Kreml gestellt und die Kontrolle über die Stadt Rostow übernommen. Im Laufe des Tages waren seine Söldner auf dem Weg nach Moskau. Am Samstagabend hat Prigoschin seinen Kämpfern völlig überraschend befohlen, zu ihren Stützpunkten zurückzukehren.

Anti-Terror-Notstand in Moskau ausgerufen

Vor Prigoschins Ankündigung, den Vormarsch nach Moskau zu stoppen, forderte der Bürgermeister der russischen Hauptstadt, Sergej Sobjanin, die Menschen auf, zu Hause zu bleiben, und erklärte den Montag aus Sicherheitsgründen zu einem arbeitsfreien Tag. „In Moskau ist der Anti-Terror-Notstand ausgerufen worden. Die Lage ist schwierig“, räumte Sobjanin in seinem Telegram-Kanal ein. Es gehe um die „Minimierung der Risiken“, es könne zu Straßensperrungen kommen, hatte es geheißen. Der arbeitsfreie Tag bleibt trotz der Deeskalation in Kraft.

Der Machthaber der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, stellte sich unterdessen an die Seite Putins und kündigte die Entsendung seiner Truppen an, um den Aufstand niederzuschlagen. Tschetschenische Kämpfer sind – wie bis vor Kurzem die Wagner-Einheiten – an der Seite der regulären russischen Armee gegen die Ukraine im Einsatz. Am späten Abend wurde über die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti verlautbart, dass 3.000 Kämpfer in Moskau bereits Position bezogen hätten – zur Verteidigung der Stadt.