Yevgeny Prigozhin bei seinem Abzug aus Rostov
Reuters/Alexander Ermochenko
Nach Wagner-Aufstand

Prigoschin soll nach Belarus

Nach dem von Minsk vermittelten Rückzug der Wagner-Truppen scheint sich die Lage in Moskau nach dem Aufstand am Samstag vorerst beruhigt zu haben. Laut russischen Angaben werden Söldnerführer Jewgeni Prigoschin und seine Gefolgschaft straffrei bleiben. Es sei ein Abkommen getroffen worden, um weitere Verluste zu vermeiden, hieß es aus dem Kreml. Prigoschin werde sich nach Belarus begeben.

Prigoschin werde unbehindert ins Nachbarland Belarus gehen, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Samstag nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax. Als Garantie für den freien Abzug habe der einstige Vertraute von Kreml-Chef Wladimir Putin „das Wort des Präsidenten“.

Obwohl Putin noch Samstagfrüh die Bestrafung der Aufständischen angekündigt hatte, gab es am Abend anderslautende Erklärungen aus dem Kreml. Auch die Kämpfer der Wagner-Truppe sollen angesichts ihrer Verdienste an der Front in der Ukraine nicht strafrechtlich verfolgt werden, wie Peskow versicherte. Vielmehr werde einem Teil der Söldner ein Angebot unterbreitet, sich vertraglich zum Dienst in den russischen Streitkräften zu verpflichten.

Krisai (ORF) über neue Entwicklungen

ORF-Korrespondent Paul Krisai spricht unter anderem über die aktuellen Entwicklungen in Russland und wie alle Maßnahmen vom Einmarsch der Söldner-Truppe wieder rückgängig gemacht werden. Außerdem erzählt er, was in den staatlichen Medien in Russland berichtet wird.

Die Vereinbarung sei vom belarussischen Staatschef Alexander Lukaschenko vermittelt worden, sagte Peskow. Dieser habe seine Hilfe angeboten, da er Prigoschin seit etwa 20 Jahren persönlich kenne. Putin habe dem zugestimmt. Die Wagner-Kämpfer, die sich nicht am Marsch beteiligt hatten, sollten Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen, die Teilnehmer erhielten Straffreiheit wegen ihrer früheren Verdienste für die Nation.

Vladimir Putin und Alexander Lukashenko in Sochi
Reuters/Sputnik
Der belarussische Machthaber Lukaschenko soll den Deal vermittelt haben

„Blutvergießen“ vermeiden

Beide Parteien betonten, mit der Vereinbarung Blutvergießen vermeiden zu wollen. Prigoschin und die Wagner-Kämpfer verließen die Stadt Rostow am Don wieder. In einem Video der russischen Agentur RIA war zu sehen, wie Prigoschin das militärische Hauptquartier der Region in Rostow in einem Geländewagen verließ.

„Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück“, sagte Prigoschin in einer von seinem Pressedienst in Telegram veröffentlichten Sprachnachricht zur Überraschung aller Beobachter und Beobachterinnen. Bisher sei „nicht ein Tropfen Blut unserer Kämpfer“ vergossen worden, „jetzt ist der Moment gekommen, wo Blut vergossen werden könnte.“ Deshalb sei es an der Zeit, die Kolonnen umdrehen zu lassen, hieß es.

Zuvor hatte der Pressedienst des belarussischen Machthabers mitgeteilt, dass dieser Prigoschin nach Absprache mit Putin überzeugt habe, aufzugeben. Prigoschin erwähnte Lukaschenko in seiner Sprachnachricht nicht ausdrücklich. Es blieb unklar, welche Zugeständnisse Prigoschin gemacht oder in Aussicht gestellt wurden, um den Vormarsch auf Moskau zu stoppen. Auch blieb unklar, wieso Lukaschenko als „Vermittler“ eingesetzt wurde.

Fritz (ORF) über Prigoschin

Peter Fritz (ORF) spricht unter anderem über Jewgeni Prigoschin und seine Söldner. Des Weiteren berichtet er, ob der russische Präsident Wladimir Putin Prigoschin unterschätzt hatte.

Kreml: Deal umfasst keine personellen Veränderungen

Am Abend zeigte sich, dass sich Prigoschins Söldner auch wieder aus den von ihnen besetzten Militäreinrichtungen in der Millionenstadt Rostow am Don zurückzogen. Dort befindet sich das Hauptquartier des russischen Militärbezirks Süd – eine Kommandozentrale für den Krieg gegen die Ukraine.

Bilder zeigen, wie sich die Kämpfer von der örtlichen Bevölkerung feiern ließen. Am Ende bleibt die zentrale Frage, wieso die Eskalation mit derartiger Vehemenz vorangeführt wurde, um wenige Stunden danach wieder einzulenken – und seitens der Gegenseite gar rasch einen Deal zu verkünden.

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Politikwissenschaftler und Russland-Experte Gerhard Mangott analysiert die Ereignisse der vergangenen 24 Stunden in Russland.

Apropos Deal: Personelle Veränderungen im russischen Verteidigungsministerium seien nach den Worten von Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nicht Teil der Vereinbarung zur Beendigung des bewaffneten Aufstands gewesen. Diese stünden allein in der Macht des russischen Präsidenten und Oberbefehlshabers der Streitkräfte, Putin. „Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass diese Themen diskutiert wurden“, gab Peskow an. Entsprechende Gerüchte hatten zuvor die Runde gemacht.

Bericht: Prigoschin soll Vorbereitungen getroffen haben

Ungeachtet dessen gehen US-Geheimdienste einem Bericht zufolge davon aus, dass Prigoschin bereits seit einiger Zeit Vorbereitungen für eine Aktion gegen die russische Militärführung traf. Er soll Waffen und Munition in der Nähe der Grenze zu Russland angehäuft haben, wie der Sender CNN unter Berufung auf namentlich ungenannte Quellen aus Geheimdienstkreisen berichtete.

Das Ziel dieser Planungen sei aber unklar gewesen. Eine mit den Geheimdienstinformationen vertraute Person sagte dem US-Sender zufolge, dass „alles sehr schnell“ gegangen und es schwierig zu erkennen gewesen sei, was Prigoschin plane.

Wagner-Kämpfer verlassen Rostov am Don
Reuters
Wagner-Kämpfer verlassen das Hauptquartier des südlichen Militärbezirks

„Marsch der Gerechtigkeit“

Der seit Monaten schwelende Machtkampf zwischen Prigoschin und der russischen Armeeführung war in der Nacht zum Samstag eskaliert. Prigoschin beschuldigte Verteidigungsminister Sergej Schoigu, den Befehl zu einem Angriff auf ein Militärlager der Wagner-Truppe gegeben zu haben. Die Einheit hatte in Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine an der Seite regulärer russischer Truppen gekämpft und eine wichtige Rolle etwa bei der Eroberung der Stadt Bachmut im östlichen Gebiet Donezk gespielt. Allerdings gab es seit Monaten Streit um Kompetenzen und Munitionsnachschub.

Nach dem angeblichen Angriff auf das Wagner-Lager – den das Verteidigungsministerium prompt dementierte – kündigte Prigoschin einen „Marsch der Gerechtigkeit“ an, um die Verantwortlichen in Moskau zu bestrafen. Prigoschins Angaben nach befanden sich die Spitzen seiner Einheiten zuletzt nur noch rund 200 Kilometer von der russischen Hauptstadt entfernt.

Menschenmenge neben Panzer in Rostow
Reuters
Menschenmenge neben einem Wagner-Panzer in Rostow

Die mehreren tausend Wagner-Kämpfer waren für Moskau bisher eine der wichtigen Gruppen im Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am Samstag genau 16 Monate dauerte. Prigoschin wirft dem russischen Verteidigungsministerium seit Langem falsche Taktik und schlechte Führung vor. Seine Kritik richtete sich bisher vor allem gegen Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow – Putin sparte er aus. Nun hielt er jedoch auch dem Kreml-Chef vor, sich schwer zu irren. Unklar war zunächst, welche Auswirkungen der innerrussische Konflikt auf den Kriegsverlauf hat.

Putin: Prigoschin „Verräter“

Prigoschin galt bisher als Vertrauter Putins. Bisher konnte er sich Kritik erlauben, für die andere längst bestraft worden wären. Am Samstagmorgen jedoch bezeichnete Putin seinen Ex-Vertrauten Prigoschin als „Verräter“. „Das ist ein Stoß in den Rücken unseres Landes und unseres Volkes“, sagte Putin.

Wer Waffen erhebe und bewaffneten Aufstand organisiere, werde bestraft, sagte er in seiner TV-Ansprache noch, am Abend desselben Tages wurde vom Kreml das Ende der strafrechtlichen Verfolgung verlautbart – gegen Prigoschin und alle seine Mitstreiter. Dabei warf der Söldnerchef Putin noch zu Mittag vor, die Lage völlig falsch einzuschätzen. „Der Präsident irrt sich schwer“, sagte er in einer Sprachnachricht in seinem Telegram-Kanal.

Die eigene Rolle beschrieb er mit den Worten: „Wir sind Patrioten unserer Heimat.“ Prigoschin kündigte an, „Korruption, Lügen und Bürokratie“ in Russland zu beenden. Damit forderte der Söldnerchef, der nach eigenen Angaben über etwa 25.000 Kämpfer verfügt, erstmals auch Putin offen heraus. Die russischen Streitkräfte haben etwa 1,5 Millionen Angehörige.