Spaniens Premier Pedro Sanchez
APA/AFP/La Moncloa/Fernando Calvo
EU-Ratsvorsitz

Spanien übernimmt in turbulenten Zeiten

„Förderung der Reindustrialisierung Europas, Übergang zum ökologischen Wandel, Konsolidierung des sozialen Pfeilers und Stärkung der europäischen Einheit“: Spanien will in der zweiten Jahreshälfte zentrale Schritte für den weiteren Weg der Europäischen Union setzen. Doch Madrid übernimmt den EU-Ratsvorsitz nicht nur in ohnehin turbulenten Zeiten – für zusätzliche Spannung sorgte Ministerpräsident Pedro Sanchez mit der von Dezember auf Juli vorgezogenen Parlamentswahl gleich selbst.

Der Schritt folgte Ende Mai auf eine herbe Niederlage für die von Sanchez angeführte sozialdemokratische Partei PSOE. Inwieweit die nach Regional- und Kommunalwahlen für viele überraschend gezogene Notbremse sich auf die Ratspräsidentschaft auswirkt, bleibt abzuwarten. In einem Punkt sind sich Beobachterinnen und Beobachter aber bereits einig: Wird der seit 2018 in Spanien regierende Sanchez am 23. Juli abgewählt, käme der dann erwartete Rechtsruck auch einem spürbaren Kurswechsel in Spaniens EU-Politik gleich.

Sanchez selbst sieht die für die EU-Präsidentschaft gesetzten und mit anderen EU-Mitgliedsstaaten und der Europäischen Kommission bereits abgestimmten Ziele dennoch nicht in Gefahr. „Andere Länder haben während ihrer Präsidentschaft auch Wahlen abgehalten, und absolut nichts ist schiefgegangen“, wie Sanchez Anfang Juni bei seinem Besuch in Schweden versicherte.

„Überhaupt kein Problem“

Auch Schweden habe kurz vor der Übernahme der von Jänner bis Juni laufenden EU-Ratspräsidentschaft eine Wahl abgehalten, sagte dazu Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson, der auch an die in Frankreich im Juni 2022 und damit während einer laufenden EU-Präsidentschaft abgehaltenen Wahlen erinnerte. Er teile somit die Einschätzung von Sanchez und sehe hier auch für Spanien „überhaupt kein Problem“.

Spaniens Premier in Kiew

Spaniens Regierungschef Pedro Sanchez ist am Samstag in Kiew zu Gast. Mit der Reise will er zeigen, dass die EU an der Seite der Ukraine ist.

Bereits absehbare Folgen hat die Spanien-Wahl auf formaler Ebene – konkret für die im Europäischen Parlament bei Ratspräsidentschaften auf dem Programm stehende Antrittsrede. Laut ursprünglichem Plan sollte Sanchez die politischen Pläne Madrids für die EU-Ratspräsidentschaft den Abgeordneten am 13. Juli vorstellen. Aufgrund der vorgezogenen Wahl beantragte er jedoch, die Rede auf September zu verschieben. Das würde es auch einem neuen spanischen Ministerpräsidenten ermöglichen, die Rede zu halten, sollte Sanchez die Parlamentswahl verlieren.

Offene Baustelle Migration

Bei einer Bestätigung im Amt hegt Sanchez große Pläne für die sechsmonatige Vorsitzzeit. Allen voran wolle er dann Europa durch die Krise führen und auch große Brocken wie das EU-Migrationspaket unter Dach und Fach bringen. Da der Ratsvorsitz auch im Schatten der im Frühjahr 2024 anstehenden EU-Wahl steht, gilt es für Spanien aber ohnehin, möglichst viele offene Baustellen abzuarbeiten. Das hat in der letzten vollständigen Amtszeit vor Europawahlen Tradition. Vielfach handelt es sich hier freilich um ohnehin vor dem Abschluss stehende Dossiers.

Für eine Einigung auf neue Asylregeln wartet aber wohl noch ein steiniger Weg, weswegen auch Sanchez zuletzt die Erwartungen auf eine rasche Lösung dämpfte. Die schwedische EU-Ratspräsidentschaft habe mit dem zuletzt unter den Mitgliedsstaaten gefundenen Kompromiss „einen großen Erfolg“ eingefahren, wie Sanchez sagte. Erklärtes Ziel sei nun eine Einigung zwischen Mitgliedsländern und EU-Parlament im kommenden Halbjahr.

Comeback strategischer Industrien

Zusammen mit Belgien und Ungarn, die nach Spanien beim rotierenden Ratsvorsitz an der Reihe sind, kann Spanien indes auch neue längerfristige Ziele (Stichwort Achtzehnmonatsplan) in den Fokus seiner Ratspräsidentschaft setzen. Seinen Stempel aufdrücken will Spanien schließlich den vier als prioritär hervorgehobenen Themen Re-Industrialisierung, grüne Transformation, soziale Rechte und ein starkes, vereintes Europa.

„Europa muss einer der Schlüsselarchitekten der neuen internationalen Ordnung sein. Wir müssen gemeinsam die Herausforderungen unserer Zeit meistern“, erklärte Sanchez zuletzt bei der Präsentation der turnusgemäßen Präsidentschaft Spaniens in Madrid.

Erste Priorität sei es, strategische Industrien nach Europa zurückzuholen. Die grüne und digitale Transformation müsse als Chance genutzt werden, Trends umzukehren. Sein Ziel sei, nicht nur abgewanderte Industrien zurückzuholen, sondern auch neue anzusiedeln. Daneben seien strategische Allianzen mit Drittstaaten zu fördern, da zum Beispiel manche kritische Rohstoffe importiert werden müssten.

Dichtes Programm

Mit der für Spanien mittlerweile fünften EU-Ratspräsidentschaft geht ein dichtes Programm einher. Neben dem am 6. Oktober in Granada geplanten Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs stehen in Spanien 21 informelle Treffen – jedes davon in einer anderen Stadt – auf dem Programm.

„Wohlstand muss alle erreichen“

Die grüne Transformation ist Madrids Priorität Nummer zwei, denn: „Alle EU-Staaten leiden unter der Umweltzerstörung. Wir haben nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine moralische Verpflichtung.“ Die spanische Präsidentschaft werde sich dafür einsetzen, die von der EU gesetzten Ziele (Stichwort „Fit for 55“-Dossiers) zu erneuerbaren Energien oder Abfallvermeidung rasch voranzubringen.

Soziale Themen sind die dritte Säule, auf die der Sozialdemokrat seinen Ratsvorsitz bauen will: „Der Wohlstand muss alle Menschen erreichen“, forderte Sanchez. Die spanische Präsidentschaft wolle sich gegen Steuerhinterziehung starkmachen und Standards für Unternehmenssteuern in allen Mitgliedsstaaten setzen.

Reihe weiterer Schwerpunkte

Zudem unterstütze er die geplante Reform des EU-Wachstums- und Stabilitätspakts, „um den Ländern zu ermöglichen, ihren Haushalt in Ordnung zu bringen und die Transformation zu finanzieren“. Der Vorschlag der EU-Kommission für einen flexibleren Stabilitätspakt wird mit den EU-Staaten verhandelt. Derzeit liegen die Positionen noch weit auseinander.

Die vierte Priorität ist für Sanchez eine gestärkte, vereinte Union: „Wir wollen die Vertiefung des Binnenmarktes und die Kapitalmarkt- und Bankenunion weiterbringen.“ Dazu kommen weitere zentrale Punkte, wie eine Reform des Energiemarktes, neue Ansätze für die EU-Schuldenregeln, die weiter offene Bulgarien-Schengen-Frage sowie das Thema EU-Erweiterung, aber auch eine Stärkung der Beziehung zu Lateinamerika – sowie die weitere Unterstützung der Ukraine.

55 Mio. Euro für Ukraine

Mit Letzterem beginnt Sanchez gleich zu Beginn der Ratspräsidentschaft: Er reiste am Samstag nach Kiew. „Ich wollte, dass der erste Akt der spanischen EU-Ratspräsidentschaft zusammen mit (Wolodymyr, Anm.) Selenskyj startet“, schrieb Sanchez auf Twitter. Ziel seiner Reise sei es, der Ukraine die anhaltende Solidarität Europas zu übermitteln. Die EU werde das ukrainische Volk so lange unterstützen, bis wieder Frieden in Europa eingekehrt sei.

Sanchez sagte der Ukraine neue Hilfsgelder zu. „Spanien wird weitere 55 Millionen Euro bereitstellen, um die Finanzierung kleiner und mittlerer Unternehmen in der Ukraine zu unterstützen“, sagte er bei seiner Rede vor dem Parlament in Kiew.

Die EU-Beitrittskandidatur der Ukraine soll eine der Prioritäten der EU-Ratspräsidentschaft sein. Spanien „bekräftigt seine Unterstützung für die EU-Beitrittskandidatur der Ukraine“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung von Sanchez mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.