Der russische Regierungschef Michail Mischustin
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Russischer Regierungschef

„Müssen geeint hinter Putin stehen“

Der russische Regierungschef Michail Mischustin hat am Montag eingeräumt, dass die Wagner-Rebellion am Wochenende eine „Herausforderung für die Stabilität“ Russlands war. Mischustin appellierte zugleich: „Wir müssen geeint hinter Putin stehen.“ Der russische Präsident Wladimir Putin ist durch die direkte Herausforderung seines bisherigen Intimus Jewgeni Prigoschin deutlich geschwächt. Die Meuterei könnte unterdessen viel blutiger verlaufen sein als bisher bekannt.

Mischustin ist der erste hochrangige Vertreter des russischen Machtsystems, der sich nach der Beendigung der Meuterei öffentlich zu Wort meldet. Er sprach bei einer im russischen Fernsehen übertragenen Regierungssitzung. Dass der Putin-Getreue Mischustin die Öffentlichkeit – und vor allem die verschiedenen Teile der Machtelite – dazu aufrufen muss, sich hinter Putin zu stellen, ist alles andere als ein Zeichen der inneren Stabilität des Regimes und der Stärke Putins. Zuvor waren Aufnahmen von Verteidigungsminister Sergej Schoigu veröffentlicht worden, die ihn angeblich bei einem Besuch in der Ukraine kämpfender russischer Truppen am Montag zeigen sollen.

Putin selbst äußerte sich bis auf eine kurze, laut Kreml am Samstag live aufgenommene Videobotschaft, in der er die Niederschlagung der Rebellion ankündigte, nicht mehr öffentlich. Bis Montagmittag war von ihm gar nichts zu hören oder zu sehen. Dann gab der Kreml bekannt, Putin habe mit mehreren Staatschefs telefoniert, darunter mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi. Und eine Videobotschaft für ein Jugendforum wurde ausgestrahlt. Es ist unklar, wann sie aufgenommen wurde. Putin äußerte sich darin nicht zur abgebrochenen Meuterei von Samstag.

All das soll offensichtlich Normalität und Routine suggerieren und der Meuterei möglichst wenig Gewicht verleihen. Ob das so einfach möglich ist, bleibt abzuwarten.

Prigoschins Aufenthalt unklar

Von Wagner-Chef Prigoschin fehlt nach dessen Abzug aus dem Militärhauptquartier in Rostow am Don weiter jede Spur. Prigoschin hatte selbst angekündigt, er werde ins Exil nach Belarus gehen. Der sonst auf Telegram sehr aktive langjährige enge Vertraute Putins ist seit Samstag aber verstummt und meldete sich auch via Telegram bisher nicht. Ein Wagner-Sprecher meinte am Montag, sobald Prigoschin an einem sicheren Ort sei, werde er sich auch wieder zu Wort melden.

Schoigu auf Truppenbesuch in Ukraine?

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu soll für einen Truppenbesuch in den besetzten Teil der Ukraine gereist sein. Es soll sich um seinen ersten öffentlichen Auftritt handeln, seitdem der Aufstand der Söldnertruppe seine Absetzung gefordert hatte.

Viel mehr Tote als bisher bekannt?

Laut unbestätigten Angaben russischer Militärfachleute dürfte die Rebellion blutiger verlaufen sein als bisher bekannt. So sollen die Wagner-Kämpfer sechs Helikopter und ein Armeeflugzeug abgeschossen haben. Dabei sollen 13 Angehörige der russischen Luftstreitkäfte getötet worden sein. Stimmen diese Angaben, wäre das eine Bestätigung, dass die rund 24-stündigen Ereignisse deutlich dramatischer verliefen als bisher bekannt.

Klar ist auch, dass so schwere Verluste schwere und langfristige Auswirkungen hätten und wohl nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden könnten. Es würde die Rivalität zwischen unterschiedlichen Kräften im staatlichen militärischen Komplex Russlands, zu dem auch Wagner gehört, deutlich erhöhen – und wohl das interne Misstrauen steigern, mit potenziellen Auswirkungen auf die Schlagkraft.

Straßen und Häuser beschädigt

In Rostow am Don beschädigten Panzer Fahrbahnen, wie Bürgermeister Alexej Logwinenko in Onlinenetzwerken mitteilte. In der Region Woronesch wurden laut Behörden 19 Häuser in dem Dorf Elisawetowka durch ein Feuergefecht beschädigt. In der russischen Hauptstadt Moskau und der Region Woronesch wurde unterdessen am Montag der Anti-Terror-Notstand aufgehoben, der wegen der Rebellion verhängt worden war.

Laut einem Bericht der Zeitung „Kommersant“ laufen die Ermittlungen gegen Prigoschin wegen der Rebellion noch, obwohl ihm und seinen Kämpfern Straffreiheit zugesichert wurde. Allerdings soll das laut „Kommersant“ daran liegen, dass die behördlichen Vorlaufzeiten eine Einstellung bisher nicht ermöglichten.

ORF-Analyse: Lage von Präsident Putin

Carola Schneider war viele Jahre ORF-Korrespondentin in Moskau. Sie spricht über die Position des russischen Präsidenten Wladimir Putin nach dem Aufstand der Söldnergruppe Wagner.

Keine Niederschlagung

Eine Niederschlagung der Meuterei erfolgte nicht, vielmehr durfte Prigoschin das Ende als eigene Entscheidung darstellen und den Abzug seiner Söldner ankündigen. Zuvor hatte der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko zwischen Putin und Prigoschin vermittelt und die Beendigung der Meuterei bei gleichzeitiger Straffreiheit für Wagner ausgehandelt.

Teile der Bevölkerung hatten Prigoschin und seinen Söldnern bei dessen Rückzug zugejubelt. Das wird von vielen Beboachterinnen und Beobachtern als klares Zeichen für die geringe Unterstützung, die Putin in der eigenen Bevölkerung genießt, verstanden.

Und die Tatsache, dass die Wagner-Söldner in das Militärhauptquartier in Rostow ohne Widerstand einziehen und sich danach in einer Kolonne – praktisch ohne auf Widerstand zu treffen – Hunderte Kilometer auf Moskau zubewegen konnten, gilt als Hinweis auf mangelnde Unterstützung selbst innerhalb der russischen Streitkräfte.

„Gesamtes System hat verloren“

Das gesamte Machtsystem in Russland habe am Samstag verloren, „inklusive Prigoschin, der Teil dieses Systems ist“, so Andrei Kolesnikov vom US-Thinktank Carnegie, der sich am Wochenende in Moskau aufhielt, gegenüber dem „Wall Street Journal“. Bei Putin „hat sich gezeigt, dass der Zar kein wirklicher Zar ist, weil er einen Mann aus seinem eigenen System – der eigentlich völlig unter seiner Kontrolle stehen sollte – nicht kontrollieren konnte“.

Wagner wird nach Einschätzung der US-Denkfabrik ISW nicht aufgelöst werden. Der Leiter des russischen Verteidigungsausschusses, Andrej Kartapolow, hatte zuvor erklärt, ein Verbot sei nicht notwendig, und die Wagner-Armee als „die kampfbereiteste Einheit in Russland“ bezeichnet.

Scherbakowa: „Große Risse“

Die russische Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa sieht in den Entwicklungen einen „Anfang“. Man habe „zum ersten Mal“ gesehen, „wie die Machtvertikale schwach ist“, sagte die Menschenrechtsexpertin im Ö1-Morgenjournal am Montag. Es sei ein „deutliches Signal, dass es große Risse“ in Russland gebe. Putin habe am Samstag „eine Panikrede“ gehalten. Er habe damit „diese Geschichte zu einem wirklichen Aufstand aufgeputscht“.

Stoltenberg: „Größter strategischer Fehler“

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte am Montag, die Ereignisse am Wochenende seien nur ein weiterer Beweis für den „größten strategischen Fehler“, den Putin mit dem Überfall auf die Ukraine gemacht habe. Die Ereignisse in Russland seien aber eine innere Angelegenheit, betonte er.

Das sähen auch die USA so, gab Außenminister Sergej Lawrow den US-Botschafter in Moskau wieder. Die USA hätten betont, nichts mit dem Aufstand zu tun zu haben. Außerdem habe sich der Botschafter bei der Regierung in Moskau über die Sicherheit der russischen Nuklearwaffen erkundigt, wurde Lawrow von der amtlichen russischen Nachrichtenagentur TASS zitiert. Lawrow wies weiters die Vermutung zurück, Moskau wolle das AKW Saporischschja im Südosten der Ukraine sprengen lassen. Solche Anschuldigungen des Westens und der Ukraine seien „Unsinn“.

Ob und wenn ja, wie sich die Ereignisse auf den Krieg in der Ukraine auswirken werden, ist noch völlig unklar. Auf der PR-Ebene ist es jedenfalls ein Etappensieg für die Ukraine und eine zusätzliche Stärkung der Kampfmoral für deren eigene Truppen.