Abgesperrter Roter Platz in Moskau
APA/AFP/Natalia Kolesnikova
Armee vorgeführt

Putins Dilemma mit der Militärspitze

Der schließlich abgebrochene Marsch auf Moskau der Söldnertruppe Wagner unter deren Chef Jewgeni Prigoschin wirft weiter jede Menge Fragen auf. Fest steht, dass die Autorität von Präsident Wladimir Putin erstmals stark geschädigt wurde – und einmal mehr die russische Armee vorgeführt wurde. Deren oberste Befehlshaber, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow, standen im Fadenkreuz von Prigoschins Kritik. Doch loswerden kann Putin sie nun genau deswegen wohl nicht.

Seit Wochen beschuldigt Prigoschin den Verteidigungsminister und den Generalstabschef, für die fehlenden militärischen Fortschritte in der Ukraine verantwortlich zu sein. Kurz bevor der Wagner-Chef seinen „Marsch für Gerechtigkeit“ ankündigte, hatte er am Freitag auch noch den offiziellen Kriegsgründen des Kreml widersprochen: „Der Krieg war nicht notwendig, um die Ukraine zu demilitarisieren oder zu denazifizieren.“ Über den Kriegsverlauf würden Schoigu und Gerassimow Putin „Blödsinn“ auftischen.

Die Ablöse der beiden war laut Berichten eine der Forderungen Prigoschins. Manche Beobachter mutmaßen auch, dass die Zusage, die beiden zu ersetzen, Teil des Deals mit dem Söldnerchef war, der zum Abbruch seiner Meuterei führte. Offizielle Stellen im Kreml dementieren das freilich.

„Durchmarsch“ der Wagner-Truppen

Russland-Beobachter glauben auch nicht, dass Putin seine Militärspitze absetzen wird – weil das eben als Zugeständnis an Prigoschin gesehen werden könnte. „Putin handelt nie unter Druck“, zitierte die exilrussische Nachrichtenwebsite Meduza einen Kreml-Kenner. Umgekehrt zeigt der Wagner-Aufstand laut allen Militärexperten einmal mehr die Schwächen der russischen Armee auf.

Sämtliche Militäreinrichtungen von Rostow am Don wurden von den Söldnern ohne Widerstand besetzt, auch ihren Vormarsch auf der Autobahn Richtung Moskau ließ man gewähren. Ein paar Straßensperren und mit Baggern unterbrochene Fahrbahnen waren keine unüberwindlichen Barrieren.

Verteidigungsminister abwesend – aber fest im Sattel?

Von Schoigu und Gerassimow war am gesamten Wochenende nichts zu sehen oder zu hören. Am Montag wurde dann ein Video veröffentlicht, auf dem Schoigu zu sehen ist. Es wurden keine Angaben gemacht, von wann die Aufnahmen stammen. Russische Militärblogger wiesen wenig später darauf hin, dass das Video ihrer Einschätzung nach noch vor dem Aufstand aufgenommen wurde.

Die Veröffentlichung wurde als Indiz gewertet, dass Putin weiter hinter seinem Vertrauten steht, der schließlich seit 2012 Verteidigungsminister ist. Auch die „Financial Times“ sieht Schoigu weiterhin fest im Sattel.

Ukrainische Erfolge könnten alles ändern

Das könnte sich aber auch wieder ändern, sollte die ukrainische Offensive doch größere Durchbrüche schaffen. Derzeit mehren sich die Anzeichen, dass ukrainische Truppen – auch im Windschatten der Turbulenzen in Russland – bei Cherson den Dnipro überquert haben könnten.

Sollte Schoigu tatsächlich gehen müssen, gibt es bereits einen Favoriten für die Nachfolge: den Gouverneur der Region Tula, Alexej Djumin, der bereits Spitzenpositionen in der Armee und im Sicherheitsapparat des Präsidenten innehatte. Er soll zudem maßgeblich an den Verhandlungen mit Prigoschin mitgewirkt haben.

Ultranationalisten machen Druck

Noch nicht abzusehen ist auch, wie der Kreml nach den Ereignissen des Wochenendes mit Ultranationalisten und Militärbloggern umgeht, die wie Prigoschin einen noch forcierteren und brutaler Krieg in der Ukraine fordern.

Der russische Ex-Geheimdienstoffizier Igor Girkin, der unter dem Pseudonym Igor Strelkow 2014 den Aufstand der Separatisten im Osten der Ukraine anführte, forderte bei einem Treffen seines „Clubs der wütenden Patrioten“ am Sonntag die Hinrichtung Prigoschins, um „Russland als Staat zu retten“. Er argumentierte das damit, dass im Zuge des Aufstands die Wagner-Truppen mehrere Hubschrauber abschossen und damit Piloten der russischen Armee töteten.

Im Laufe des Krieges kam der Kreml – so Einschätzungen von Experten – einige Male Forderungen der Ultranationalisten entgegen. Die von staatlichen Medien lancierte Meldung, dass das Strafverfahren gegen Prigoschin entgegen der Ankündigung von Samstag weitergehe, kann als Signal in diese Richtung gewertet werden. Der US-Thinktank Institute for the Study of War merkte an, dass die Straffreiheit für Prigoschin und seine Truppen umgekehrt auch ein Signal an die Ultranationalisten sei, die Grenzen des Sagbaren weiter auszuloten.

Wagner als tickende Zeitbombe?

Auch Militärexperten glauben, dass das letzte Kapitel mit der Wagner-Truppe noch nicht geschrieben sei, wenn es bei der Verfahrensweise bleibt, die Putin in seiner Rede Montagabend bestätigte: Prigoschin wird nach Belarus gebracht, so wie auch viele Söldner, die sich nicht der russischen Armee anschließen wollen. Laut Medienberichten wurde begonnen, ein erstes Camp für rund 8.000 Kämpfer nahe der kleinen Stadt Assipowitschy zu errichten.

Was die Söldner in Belarus tun sollen, ist bisher völlig offen. Und die Gruppe wird weder aufgelöst noch entwaffnet – für Beobachter ist das damit eine tickende Zeitbombe von mehreren zehntausend Mann, vor allem wenn man die „abgerüsteten“ Ex-Häftlinge mitzählt, die in der Ukraine gekämpft haben.

Kadyrow-Truppen nur virtuell präsent

Eher Spott ernten derzeit hingegen die Spezialeinheiten des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow. Am Samstag hieß es hochtrabend, tschetschenische Einheiten seien auf dem Weg nach Rostow am Don, um dort die Wagner-Söldner zu stellen. Eingetroffen dürften sie aber erst sein, nachdem die Meuterei schon wieder abgeblasen war.

Danach posierten sie, ihren Abzug darstellend, für soziale Netzwerke. Derzeit ist nicht bekannt, dass Kadyrows Truppen irgendwo am Kampfgeschehen in der Ukraine beteiligt sind. Zuletzt berichtet wurde vor rund einem Jahr über Einsätze in Mariupol – und auch von dort gab es Berichte, dass andere russische Truppen die Tschetschenen eher als Belastung denn als Hilfe empfanden.