Kemal Atatürk und Ismet Pascha
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100 Jahre Türkei

Kurden, Flüchtlinge und Lausanne

Am 24. Juli 1923 wurde der Vertrag von Lausanne unterzeichnet, der als Geburtsstunde der türkischen Republik gilt. Der Vertrag regelte auch die Rechte von Minderheiten – aber nicht aller: Sie legte den Grundstein des bis heute andauernden Konflikts mit den Kurden. Der kürzlich wiedergewählte Präsident Recep Tayyip Erdogan folgt einem altbekannten Muster. Seine Flüchtlingspolitik hat mit seiner Kurdenpolitik und mit dem Vertrag von Lausanne zu tun.

In der Vergangenheit bedienten sich türkische Regierungen wiederholt eines ähnlichen Musters. Als am 24. Juli 1923 der Vertrag von Lausanne unterzeichnet wurde, war der Offizier Ismet Inönü Außenpolitiker der türkisch-republikanischen Volkspartei CHP. Inönü kam aus einer kurdischen Familie und wurde zu einem der wichtigsten Führer des türkischen Unabhängigkeitskrieges. „Ismet Inönü leitete die Delegation in Lausanne. Er wurde persönlich von Mustafa Kemal Atatürk damit beauftragt“, so der Religionswissenschaftler Hüseyin Cicek von der Uni Wien.

1920 verlor das Osmanische Reich im von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs diktierten Vertrag von Sevres einen Großteil seiner Gebiete. Dieser Vertrag wurde allerdings nie ratifiziert, da im Osmanischen Reich längst der Befreiungskrieg im Gange war, der zum Sturz des letzten Sultans Mehmed VI. und im Oktober 1923 zur Gründung der Republik durch Mustafa Kemal Pascha (Atatürk) führte.

Kemal Atatürk und Ismet Pascha
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Oberbefehlshaber Atatürk und der Kommandant der Westfront, Inönü, während des Griechisch-Türkischen Krieges

Aufteilung Kurdistans

Im Vertrag von Lausanne konnte die türkische Delegation, nachdem die Befreiungsbewegung 1922 den Griechisch-Türkischen Krieg gewonnen hatte, viele im Vertrag von Sevres vorgesehene Gebietsverluste revidieren. Damit wurden auch große Teile Kurdistans, das laut Sevres-Vertrag den Kurden hätte zugesprochen werden sollen, Teil der türkischen Republik.

Die kurdischen Gebiete wurden schließlich gevierteilt, wie es auch im geheimen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 zwischen England und Frankreich festgelegt worden war. Durch die jahrzehntelange Spaltung lebt die kurdische Minderheit in verschiedenen Staaten – und entwickelte damit je nach Region unterschiedliche Interessen.

Treffen mit irakischem Kurdenführer

Das zeigte sich unlängst deutlich: Nach den Wahlen traf der Premierminister der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Masrur Barsani, Erdogan in Ankara. Er gratulierte dem türkischen Präsidenten zu seinem Sieg und brachte Hoffnungen für den Erfolg der neuen türkischen Regierung zum Ausdruck. Es wurden Wirtschaft und Handel als besonders vielversprechende Bereiche für die Zusammenarbeit hervorgehoben.

Türkeis Präsident Reccep Tayyip Erdogan und Premierminister der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, Masrour Barzani
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Der irakische Kurdenführer Barsani traf sich nach Erdogans Wiederwahl mit diesem in Ankara

Das Treffen mit Barsani wird als Versuch gewertet, die Macht der linken prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in den türkischen Regionen zu schwächen und um selbst bei den Kommunalwahlen Anfang 2024 besser abzuschneiden.

Erdogans AKP sucht, das zeigte sich schon vor der Präsidentschafts- und Parlamentswahl heuer, neue Partner: „Erdogan will Istanbul zurückerobern, dafür strebt er eine neue Verfassung an, um das Präsidialsystem zu ändern. Dafür braucht er neue Partner“, so der Soziologe und Politikberater Kenan Güngör gegenüber ORF.at.

Kurden nicht als Minderheit anerkannt

Ein weiteres bis heute fortwirkendes Problem des Vertrags von Lausanne: Er verleiht nur religiösen Minderheiten, also Juden und Christen, einen Schutz, nicht aber ethnischen. "Dadurch wurden die Kurden und Kurdinnen in der Türkei nach 1923 unsichtbar“, betont Cicek. Das habe Kurden und Kurdinnen und zahlreiche weitere ethnische Gruppen ihrer nationalen Identität beraubt, so Cicek.

Von den weltweit mehr als 30 Millionen Kurden und Kurdinnen leben aktuell etwa 20 Prozent in der Türkei. In den 1990er Jahren trieb laut UNO das militärische Vorgehen gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Millionen von Kurden und Kurdinnen zur Flucht. Die PKK wird auch von den meisten westlichen Ländern als terroristische Vereinigung eingestuft.

Pro-HDP-Demonstration
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Demonstration für die prokurdische HDP 2021 in Istanbul

Kurze Annäherung

Bei den ersten Friedensgesprächen zwischen dem türkischen Staat und der PKK von 2009 bis 2011 in Oslo schickte Erdogan den aktuellen türkischen Außenminister Hakan Fidan, damals Mitarbeiter des Geheimdiensts MIT, in die Verhandlungen. Die türkische Regierung betrachtete den Rückzug der PKK von türkischem Territorium und die Niederlegung der Waffen als höchste Priorität. Ein vereinbarter Waffenstillstand und kleinere Zugeständnisse an Kurden hielten aber nicht lange: Seit 2015 sind die Fronten wieder verhärtet.

Allerdings sind laut Güngör in der neuen Regierung Erdogans auch Minister mit kurdischen Wurzeln vertreten – neben Fidan auch Finanzminister Mehmet Simsek und Gesundheitsminister Fahrettin Koca. „Das kam schon öfter vor. In der Türkei kommt es nicht darauf an, ein Kurde zu sein“, so Güngör. Schwierigkeiten bekomme man aber, wenn man sich für die Rechte der Kurden einsetze.

Türkeis Außenminister Hakan Fidan und Präsident Reccep Tayyip Erdogan
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Der neue türkische Außenminister Hakan Fidan mit Erdogan bei der Angelobung Anfang Juni

Anders gesagt: Sozialer Aufstieg in der Türkei ist auch als Kurde möglich – aber unter weitgehendem Verzicht auf die kurdische Identität. Fachleute sehen eine Taktik, um Kurden und Kurdinnen zur Assimilation zu drängen und die kurdische Bevölkerung zu spalten.

„Flüchtlingsfrage als Instrument“

„Die Flüchtlingsfrage und die Vertreibung von Kurden wurde vom türkischen Staat schon immer als Instrument eingesetzt“, sagt auch Devris Cimen, ehemaliger Europabeauftragte der HDP in Brüssel. Für das Flüchtlingsproblem von Syrien sei die Außenpolitik der AKP-Regierung verantwortlich, so Cimen.

Die Migrationspolitik sei inzwischen zum Kern der Politik Erdogans geworden, sowohl außenpolitisch als auch innenpolitisch. Das habe sich auch bei den Wahlen gezeigt. „Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Kurdenpolitik und der Flüchtlingspolitik“, so Güngör.

Erpressungsmittel gegenüber EU

Erdogan nutzt, das sind sich Expertinnen und Experten seit Jahren einig, die Flüchtlingspolitik als Erpressungsmittel gegen die EU, und das setzt sich wohl fort. „Wir haben schon in der Diskussion über Schwedens und Finnlands Beitritt in die NATO gesehen, was für einen Einfluss Erdogan hat“, so Güngör.

All das zeigt: Auch 100 Jahre nach Gründung der türkischen Republik sind wesentliche – in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs geschaffene – Konflikte mit den Kurden weiter ungelöst. Sicher scheint nur: Bei den offiziellen staatlichen Feiern im Juli und Oktober werden diese keine Bühne bekommen.