EU-Gipfel im Gebäude des Europäischen Rats in Brüssel
AP/Virginia Mayo
EU-Gipfel

Migration und Ukraine zeigen Konfliktlinien

Der Umgang mit illegaler Migration, die Lage in Russland und Unterstützungen für die Ukraine haben die 27 EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag in Brüssel beim letzten Gipfel vor der Sommerpause beschäftigt. Für die Ukraine gab es, auch auf Betreiben Österreichs, nur vage Sicherheitszusagen. Zudem kamen wie erwartet beim Thema Asylreform und Sicherheits- und Verteidigungspolitik Konfliktlinien zutage. Der Streit hinter den Kulissen verdeutliche, wie sehr die „Fehde um Migrationsgelder“ mittlerweile die politische Agenda der EU dominiere, schrieben Medien.

Den Auftakt des ersten Gipfeltages machte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der den jüngsten Wagner-Aufstand in Russland als „Meuterei“ bezeichnete, die „Risse“ im Machtsystem von Präsident Wladimir Putin zeige. Es sei noch nicht klar, was genau mit den Wagner-Söldnern passiere, so der NATO-Generalsekretär gegenüber dem ORF. Auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte vor „Nachbeben“.

Die Tür für den NATO-Beitritt der Ukraine stehe jedenfalls offen, so Stoltenberg. Die beste Sicherheitsgarantie für die Ukraine wäre es, das Land in die NATO aufzunehmen, sobald der Krieg vorbei sei, sagte auch der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins. Auch Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas erklärte, die einzig sinnvolle Sicherheitsgarantie für Kiew sei die NATO-Mitgliedschaft. „Wir müssen auf dem NATO-Gipfel den Weg für die Mitgliedschaft der Ukraine frei machen“, forderte sie mit Blick auf das Bündnistreffen am 11. und 12. Juli in Litauen.

EU-Gipfel: Ukraine und Russland im Fokus

Die Unterstützung der Ukraine angesichts des russischen Angriffskrieges beschäftigte die 27 EU-Staats- und -Regierungschefinnen und -chefs, darunter Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP), am Donnerstag in Brüssel. Darüber hinaus war auch die Lage in Russland nach der Wagner-Revolte ein zentrales Thema.

Die Ukraine strebt neben dem NATO-Beitritt langfristig auch einen Beitritt in die EU an. Die EU müsse sich nach den Worten von EU-Ratspräsident Charles Michel bereits jetzt darauf vorbereiten. „Wir müssen klären, wie wir die finanzielle Solidarität finanzieren und organisieren“, sagte Michel am Donnerstag. Zudem müsse sich die EU reformieren, um aufnahmefähig zu werden.

Der Europäische Rat

Der Europäische Rat ist das Organ der EU, das die politischen Zielvorstellungen und Prioritäten der EU festlegt. Mitglieder sind die Staats- und Regierungschefs der 27 EU‑Mitgliedsstaaten, der Präsident des Europäischen Rates und der Präsident der Europäischen Kommission.

Metsola: Müssen Geld in die Hand nehmen

„Die Ukraine muss unsere Priorität Nummer eins bleiben“, betonte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola nach ihrem Treffen mit den EU-Staats- und -Regierungschefs. Die internen Ereignisse in Russland hätten Auswirkungen auf Europas Sicherheit. Aber: „Die Ukraine schlägt zurück. Putin wird schwächer.“ Die Ukraine ist laut Metsola „auf einem guten Weg“ zum Start von EU-Beitrittsverhandlungen. Sie sei optimistisch, dass die Verhandlungen Ende dieses Jahres starten könnten.

Sie rief auch zu einer Aufstockung des langjährigen EU-Budgets auf, wie von der EU-Kommission vorgeschlagen: „Wenn wir der Ukraine wirklich helfen wollen, wenn wir die grüne und digitale Transformation schaffen wollen, müssen wir auch Geld in die Hand nehmen.“ Man brauche eine Strategie, die Ukraine bei ihrem Kampf für Unabhängigkeit und Stabilität zu unterstützen, sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Eintreffen. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass es lange dauern kann.“

Nehammer pocht auf „Rolle als Neutrale“

Zentrales Thema war zudem die weitere Unterstützung der Ukraine. Auf dem Gipfel entbrannte eine Debatte über mögliche Sicherheitsgarantien, die Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ins Gespräch gebracht hatte. Neutrale Mitgliedsstaaten – darunter auch Österreich – hatten zunächst in den Gipfelentwurf eine Passage hineinreklamiert, die die „vollständige Achtung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedsstaaten“ betont.

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) erteilte den Forderungen zahlreicher Staats- und Regierungschefs nach „Sicherheitsgarantien für die Ukraine“ in Brüssel eine klare Absage. „Für uns als neutrale Staaten ist es klar, dass es die so nicht geben kann“, sagte er vor Beginn des Treffens am Donnerstag. Über die derzeitige „abgemilderte Formulierung der Sicherheitszusagen“ rechnet Nehammer mit einer Diskussion, aber: „Was uns wichtig ist, ist, dass unsere Rolle als Neutrale auch explizit erwähnt wird.“

Der österreichische Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) in Brüssel
AP/Virginia Mayo
Nehammer erteilte Sicherheitsgarantien für die Ukraine in Brüssel eine „klare Absage“

Die Sicherheitszusagen in der Gipfelabschlusserklärung sollen auf eine langfristige militärische Unterstützung der EU für das Beitrittskandidatenland Ukraine abzielen. Österreich, Irland, Malta und Zypern haben laut Nehammer gegen die Erteilung von „Sicherheitsgarantien klare Bedenken“ angemeldet. Die Rolle der Neutralen sei eine andere als die der anderen Mitgliedsstaaten. „Wichtig ist, dass man die Vielfalt der EU im Kopf behält. Die Vielfalt ist unsere Stärke“, sagte Nehammer.

Kiew erhält nach Staudammzerstörung Hilfe

Biem Themenkomplex Ukraine einigten sich die Mitgliedsstaaten auf neue Hilfen nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten seien bereit, zusätzlich zu der bereits laufenden Katastrophenschutzhilfe Unterstützung zu leisten, heißt es in der verabschiedeten Erklärung der Staats- und Regierungschefs.

Auch will man Kiew bei der Planung eines Friedensgipfels unterstützen. Man werde die diplomatischen Kontakte intensivieren, um eine größtmögliche internationale Unterstützung für die zentralen Prinzipien und Ziele der ukrainischen „Friedensformel“ zu gewährleisten, heißt es. Diese Friedensformel beinhaltet den vollständigen Abzug russischer Truppen vom ukrainischen Staatsgebiet, die Freilassung aller Kriegsgefangenen, ein Tribunal gegen russische Kriegsverbrecher sowie Sicherheitsgarantien für die Ukraine.

Migration weiter Konfliktthema

Die Organisatoren des Gipfels hätten gehofft, das kontroverse Thema Migration zugunsten von Diskussionen über Russland, China und wirtschaftliche Sicherheit auf ein Minimum zu reduzieren, bestätigten Diplomaten dem ORF vor dem Gipfel. Doch mit öffentlichkeitswirksamen Katastrophen wie dem jüngsten Schiffbruch von Geflüchteten in der Nähe von Griechenland werde es immer schwieriger, das hitzige Thema zu vermeiden. Mit einem Video auf seinem Twitter-Account erregte etwa Ungarns Premierminister Viktor Orban in Brüssel Aufsehen.

„Jeder hier in Brüssel fragt sich: Wo ist das Geld?“, fragte er auf einem Balkon stehend vor Beginn des Gipfels in die Kamera. Er bezog sich dabei auf die Forderung der EU nach einer Budgeterhöhung für die Jahre 2024 bis 2027 um rund 66 Milliarden Euro. Es sei eine Situation entstanden, in der die EU „am Rande des Bankrotts“ stehe. Man brauche 50 Mrd. Euro für die Ukraine, man brauche Geld für Zinsen für Kredite, von denen Ungarn und Polen noch keinen einzigen Cent gesehen hätten. Das sei zumindest „frivol“, so Orban.

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz, der schwedische Premierminister Ulf Kristersson und der ungarische Premierminister Viktor Orban
Reuters/Johanna Geron
Ungarns Ministerpräsident Orban sind die Asylpläne der EU ein Dorn im Auge

Polen und Ungarn gegen Asylreform

Sowohl Ungarn als auch Polen stellen sich gegen die Pläne für eine weitreichende Reform des europäischen Asylsystems, die vor knapp drei Wochen per Mehrheitsentscheidung bei einem EU-Innenministertreffen auf den Weg gebracht worden war. Neben einer Pflicht zur Solidarität in Notsituationen sieht die Reform zahlreiche Ergänzungen und Verschärfungen der aktuellen Regeln vor, um illegale Migration zu begrenzen.

Vorgesehen ist insbesondere ein deutlich härterer Umgang mit Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten. Sie sollen künftig nach einem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Dort würde dann im Normalfall innerhalb von zwölf Wochen geprüft, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat. Wenn nicht, soll er umgehend zurückgeschickt werden.

Luftaufnahme von überfülltem Flüchtlingsboot
Reuters/Hellenic Coast Guard
Das schwere Bootsunglück vor Griechenland mit Hunderten Toten sorgte zuletzt international für Entsetzen

Über die Pläne sollen in Kürze Verhandlungen mit dem Europaparlament beginnen. Als Risiko gilt nun allerdings, dass Ungarn und Polen aus Protest gegen die Mehrheitsentscheidung der Innenminister andere Entscheidungen oder Erklärungen, bei denen einstimmige Beschlüsse erforderlich sind, blockieren. Auf EU-Gipfeln zum Beispiel ist Einstimmigkeit immer erforderlich.

Abkommen mit Tunesien vor Verhandlung

Von der Leyen wollte bei dem Gipfeltreffen ursprünglich auch ein Abkommen mit Tunesien vorstellen, das eine Milliarde Euro für das wirtschaftlich angeschlagene Land vorsieht. Im Gegenzug soll Tunesien verstärkt gegen Menschenschlepper vorgehen und abgelehnte Asylbewerber zurücknehmen. Dieses Abkommen muss aber noch weiter verhandelt werden, weil das autoritär regierte Tunesien bisher die geforderten Wirtschaftsreformen und Menschenrechtsstandards nicht zugesagt hat.

Relevant ist die Zusammenarbeit mit Tunesien, weil der Staat derzeit sowohl ein bedeutendes Herkunfts- als auch ein bedeutendes Transitland für unerwünschte Migration über das Mittelmeer in die EU ist. Nach Zahlen der Vereinten Nationen kamen über Tunesien allein in diesem Jahr schon mehr als 30.000 Menschen in Italien an.