Frauen mit Kindern sitzen auf Bank in Afghanistan
Nava Jamshidi
Afghanistan

Gesundheitssystem vor Zusammenbruch

Fast zwei Jahre nach der Machtübernahme durch die Taliban ist die Gesundheitsversorgung in Afghanistan am Zusammenbrechen. Das berichtete die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) im Gespräch mit ORF.at: Die Kapazitäten seien erschöpft, die medizinischen Zentren stießen bereits an ihre Grenzen.

Nach den jüngsten Angaben der Vereinten Nationen befindet sich Afghanistan in der weltweit größten humanitären Krise. Gleichzeitig befeuert eine Wirtschaftskrise die missliche Situation vieler Menschen im Land. Nach der Machtübernahme der islamistischen Terrorgruppe kam es zu internationalen Sanktionen gegen das Regime, weil es gegen die grundlegenden Menschenrechte von Frauen und Mädchen verstößt.

Bisher hat kein Land der Welt die Taliban-Regierung anerkannt. Westliche Botschaften haben das Land verlassen, was freilich auch Folgen für die Krise hat. Um zu vermeiden, dass finanzielle Mittel über Umwege an die Taliban fließen, stellen ausländische Kreditoren ihre Unterstützungen gänzlich ein. Dadurch nähmen aber auch die Ressourcen für medizinische Mittel ab, sagt Sara Chare von Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan gegenüber ORF.at.

Frauen in Krankenhaus in Afghanistan
Nava Jamshidi
Während die medizinische Versorgung unbezahlbar wird, sind die von UNICEF und MSF finanzierten Gesundheitszentren überfüllt

Wirtschaftskrise stark spürbar

Seit der militärischen Invasion unter US-Führung im Jahr 2001 ist das Gesundheitssystem noch mehr auf internationale Finanzierung angewiesen. Derzeit flössen Hilfsmittel aber hauptsächlich in Entwicklungsprojekte, weil die ausländischen Geber eine direkte finanzielle Unterstützung der Taliban vermeiden wollten, sagt Chare. Das führe dazu, dass sich die Menschen wegen der Wirtschaftskrise die medizinische Versorgung kaum noch leisten können.

Ärzte ohne Grenzen

Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit 1980 in Afghanistan. In acht Provinzen hat die Organisation ihre Tätigkeit seit der Machtübernahme der Taliban ausgeweitet. Im Jahr 2022 hat sie mehr als 323.230 Patienten in Notaufnahmen aufgenommen, über 42.700 Entbindungen begleitet und 9.350 Kinder in stationäre therapeutische Ernährungszentren eingewiesen.

„Viele von den in Afghanistan lebenden Menschen nehmen Kredite auf, verkaufen Eigentum, weil die Ersparnisse nicht mehr reichen, um die medizinische Versorgung und die Reisekosten zu bezahlen“, betont die Leiterin von der Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan. Das Gesundheitssystem in dem Land sei schon seit vielen Jahren unterfinanziert gewesen. Auch die Infrastruktur sei nicht an das Bevölkerungswachstum der letzten 20 Jahre angepasst worden.

Zahl der Patienten kaum bewältigbar

Durch die Wirtschaftskrise sei die Zahl der Patienten und Patientinnen in den öffentlichen Gesundheitszentren gestiegen, sagt Chare. Der Grund sei, dass viele, die zuvor auf Privatärzte setzten, nun die öffentlichen medizinischen Zentren besuchen, weil die Ersparnisse nicht mehr reichen, um Medikamente zu bezahlen. In einigen Provinzen seien die Gesundheitseinrichtungen schon überfüllt.

Reinigungskraft in Gesundheitszentrum
Nava Jamshidi
Wegen Mangels an Fachkräften muss das Personal auch anderweitig arbeiten

„Mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise kommen aber auch mehr Patienten zu uns, weil sie wissen, dass Ärzte ohne Grenzen kostenlose Gesundheitsversorgung und Medikamente zur Verfügung stellt und die Patienten von einer Behandlung profitieren können, die sie sich sonst nicht leisten können“, sagt Chare. Wegen der hohen Reisekosten kämen sie allerdings oft erst in fortgeschrittenem Krankheitsstadium.

Gesundheitszentren schwer erreichbar

„Gut funktionierende öffentliche Gesundheitseinrichtungen sind außerhalb der Städte oft nicht verfügbar. Die Menschen in Afghanistan müssen weit reisen, um eine medizinische Behandlung in Anspruch zu nehmen“, betont Chare. Neben den Reisekosten sei auch der Zugang zu medizinischen Leistungen in den Gesundheitszentren mit Schwierigkeit verbunden. So spiele etwa die Frage, ob die Ressourcen überhaupt verfügbar sind, eine entscheidende Rolle.

Sanitäterstation am Land in Afghanistan
Nava Jamshidi
Die öffentlichen medizinischen Zentren sind für viele mit Reisekosten verbunden

Am Ende der Konflikte mit den Taliban im Jahr 2021 habe sich die Sicherheitslage im Land zwar ein wenig verbessert, so Chare. Dadurch könnten sich die Menschen nun freier bewegen und somit sei auch der Transport von medizinischen Gütern wieder möglich. Dass die medizinischen Zentren schwer erreichbar sind, sei aber weiterhin ein großes Problem.

Zusätzlich herrscht ein äußerst rigides patriarchales System. Wollen Frauen und Mädchen etwa eine medizinische Einrichtung besuchen, steht im Windschatten immer ein Mann. „Es gibt qualifizierte afghanische Ärztinnen, die im Land arbeiten, auch als Gynäkologinnen, aber die Patientinnen müssen beim Verlassen des Hauses immer begleitet werden“, so Chare.

Eingang zu Krankenhaus in Afghanistan
Nava Jamshidi
Frauen und Mädchen dürfen nur mit Begleitung zum Arzt

Zugang für Frauen noch komplizierter

Als die Taliban nach dem überstürzten Rückzug der internationalen Truppen im August 2021 die Macht im Land übernahmen, versprachen die Islamisten die Wahrung von Frauenrechten. Mittlerweile sind Frauen jedoch aus einem Großteil der Berufe verdrängt worden, auch Universitäten und höhere Schulen dürfen sie nicht mehr besuchen.

Letztes Jahr im Dezember wiesen die Taliban außerdem alle in- und ausländischen Nichtregierungsorganisationen an, keine Mitarbeiterinnen mehr einzustellen. Der Gesundheitsminister der Taliban-Regierung habe jedoch informell klargestellt, dass das Verbot nicht für Organisationen gilt, die medizinische Leistungen erbringen, und dass Frauen weiterhin im Gesundheitssektor arbeiten dürfen, sagt Chare. „Über 50 Prozent unseres medizinischen Personals sind Frauen.“

Doch es mangle an Fachkräften, sagt Chare. Um medizinisches Personal auszubilden, müsse der Zugang zu Bildung wieder möglich sein. „Es ist schon jetzt schwierig, qualifizierte afghanische Ärztinnen zu finden, die in einigen unserer Projekte im Land arbeiten. Und wenn man der Hälfte der Bevölkerung den Zugang zur Bildung verwehrt, wird sich die Lage langfristig nur verschlimmern.“