Feuerwehrmann steht vor ausgebranntem Fahrzeug
Reuters/Pascal Rossignol
Unruhen in Frankreich

Macron nimmt Eltern in die Pflicht

Nach der dritten Nacht mit Unruhen in ganz Frankreich hat Präsident Emmanuel Macron am Freitag explizit die Eltern im Land angesprochen. Ein Drittel der in der vergangenen Nacht Festgenommenen seien sehr jung, sagte Macron nach einem Krisentreffen der Regierung. Er appellierte an das „Verantwortungsbewusstsein der Mütter und Väter“. Verantwortliches Handeln mahnte er auch von sozialen Netzwerken ein. Bei den Protesten starb am Freitag unterdessen ein junger Mann.

Die Republik sei nicht dazu bestimmt, die Aufgaben der Eltern zu ersetzen, sagte Macron. Er habe das Gefühl, dass einige Jugendliche sich von der Realität verabschiedet hätten und auf der Straße Videospiele nachahmten. Zuvor hatte er „mit größter Entschiedenheit all diejenigen verurteilt, die diese Situation und diesen Moment nutzen, um zu versuchen, Unruhe zu stiften und unsere Institutionen anzugreifen“.

Macron machte auch die sozialen Netzwerke für die Gewalteskalation der vergangenen Tage verantwortlich: „Wir haben auf einigen von ihnen, Snapchat, TikTok und anderen, die Organisation gewalttätiger Versammlungen wahrgenommen.“ Die Plattformen würden nun aufgefordert, „die sensibelsten Inhalte“ zu entfernen, und forderte ihre „Verantwortung“ sowie ihre Zusammenarbeit ein. Der Präsident hatte vorzeitig ein Gipfeltreffen der Europäischen Union verlassen, um rechtzeitig zu der Krisensitzung zurück in Paris zu sein.

Elisabeth Borne, Emmanuel Macron und Gerald Darmanin
Reuters/Yves Herman
Premierministerin Elisabeth Borne, Präsident Macron und Innenminister Gerald Darmanin suchten einen Weg aus der Eskalation

Busse und Straßenbahnen stehen seit 21.00 Uhr still

Vielfach wurde vermutet, dass Macron nach dem Krisentreffen den nationalen Notstand verhängen könnte. Premierministerin Elisabeth Borne hatte zuvor angekündigt, „alle Hypothesen“ zu prüfen, um schnell wieder zur „republikanischen Ordnung“ zurückzukehren – auch die Ausrufung des landesweiten Notstands hatte sie nicht ausgeschlossen. Die französische Regierung entschied sich zunächst jedoch dafür, dass das Innenministerium „zusätzliche Mittel“ einsetzen solle.

So sollen etwa im ganzen Land Busse und Straßenbahnen abends nicht mehr fahren. Innenminister Gerald Darmanin habe die Präfekten in den Regionen angewiesen, ab 21.00 Uhr den Verkehr dieser Transportmittel einzustellen. Auch der Verkauf von Feuerwerkskörpern, von Benzinkanistern sowie entzündlichen und chemischen Produkten solle systematisch unterbunden werden. Für Freitagabend kündigte Darmanin den Einsatz von 45.000 Sicherheitskräften an. Er hielt auch am späten Abend die Ausrufung des Notstandes weiterhin für denkbar.

Ausschreitungen in einem Vorort Paris
Reuters/Gonzalo Fuentes
Angezündete Fahrzeuge und beschädigte öffentliche Gebäude sind derzeit im Großraum von Paris Alltag

Protestierender von Dach gefallen und gestorben

Am Rande der seit Tagen anhaltenden Proteste starb nun ein junger Mann. Er sei von einem Dach gefallen und konnte nicht mehr gerettet werden. Wie Polizei und Staatsanwaltschaft am Freitagabend mitteilten, ereignete sich der Vorfall in der Nacht auf Freitag auf dem Dach eines Supermarktes in Petit-Quevilly. Die genauen Umstände sind noch unklar.

Polizist in Untersuchungshaft

Auslöser der Unruhen war der Tod eines Jugendlichen. Eine Motorradstreife in Nanterre bei Paris hatte den 17-jährigen Nahel, der algerischer und marokkanischer Abstammung war, gestoppt. Als der junge Mann plötzlich anfuhr, fiel ein tödlicher Schuss aus der Dienstwaffe des Polizisten. Gegen den Beamten wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags eingeleitet, er kam in Untersuchungshaft. Der Einsatz der Waffe bei der Kontrolle war nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft nicht gerechtfertigt. Nahel soll am Samstag beigesetzt werden.

Erneut Krawalle in Frankreich

In der dritten Nacht in Folge hat es in Frankreich nach dem Tod eines Jugendlichen bei einer Polizeikontrolle Krawalle im Großraum Paris und weiteren Städten gegeben.

Seitdem wird Frankreich von heftigen Unruhen erschüttert. Im Großraum Paris und in weiteren Städten gab es von Donnerstag auf Freitag in der dritten Nacht in Folge Ausschreitungen. Autos und Mülltonnen wurden in Brand gesteckt und Polizisten mit Feuerwerkskörpern angegriffen. Mehrere hundert Menschen wurden nach Angaben des Innenministeriums festgenommen und mehr als 200 Polizeibeamte verletzt.

Eingeschlagene Schaufenster
Reuters/Pascal Rossignol
Dutzende Geschäfte wurden verwüstet

In der Nacht auf Frankreich zeigten Videos in den sozialen Netzwerken Stadtlandschaften im ganzen Land in Flammen. In der ostfranzösischen Stadt Lyon wurde eine Straßenbahn angezündet, in einem Depot in Aubervilliers im Norden von Paris brannten zwölf Busse aus. In Nanterre am Rande der Hauptstadt fackelten Demonstrierende Autos ab, verbarrikadierten Straßen und bewarfen die Polizei mit Wurfgeschoßen. Im Einkaufszentrum Chatelet Les Halles im Zentrum von Paris wurde in ein Schuhgeschäft eingebrochen, in der angrenzenden Einkaufsstraße Rue de Rivoli Schaufensterscheiben eingeschlagen.

Polizeigewerkschaften sprechen von „Schädlingen“

Mit populistischen Parolen haben zwei große französische Polizeigewerkschaften dazu aufgerufen, sich den Protestierenden in den Weg zu stellen. „Jetzt ist nicht die Zeit für den Arbeitskampf, sondern für den Kampf gegen diese ‚Schädlinge‘“, hieß es in einer am Freitag von den Gewerkschaften Alliance Police Nationale und Unsa Police veröffentlichten Erklärung. Polizeibeamte befinden sich ihren Worten zufolge „im Krieg“.

„Gegenüber diesen wilden Horden reicht es nicht mehr, zur Ruhe aufzurufen, sie muss durchgesetzt werden“, teilten die beiden Gewerkschaften mit und fügten hinzu: „Morgen befinden wir uns im Widerstand, das muss der Regierung bewusst werden.“ Alliance Police Nationale und Unsa Police vertreten etwa die Hälfte aller Polizeibeamten in Frankreich.

„Polizei-‚Gewerkschaften‘, die zum Bürgerkrieg aufrufen, sollten lernen, den Mund zu halten“, schrieb der Chef der linkspopulistischen Partei La France insoumise, Jean-Luc Melenchon, auf Twitter. Die Politik solle die Polizei „wieder in den Griff bekommen“. Marine Tondelier von den Grünen schrieb auf Twitter von einem „strukturellen Problem in der Polizei“. Der Text der Polizeigewerkschaften sei ein „Aufruf zum Bürgerkrieg“.

Aktualisierte Sicherheitshinweise

Das österreichische Außenministerium hat indes seine Sicherheitshinweise für Frankreich aktualisiert. „Die Sicherheitslage in der Ile de France und anderen französischen Großstädten sei instabil“, hieß es auf der Website. Reisen in die Vorstadtviertel um Paris sollten gemieden werden. Das Ministerium rief bei Reisen nach Frankreich zudem zu einer Registrierung auf. Auch andere Länder haben Bürgerinnen und Bürger mit Reiseplänen in Frankreich zur Vorsicht aufgerufen.

Einsatzkräfte löschen ausgebrannte Mistkübel
Reuters/Pascal Rossignol
Mehrere Länder warnten angesichts der Entwicklungen vor einem Besuch in Pariser Vororte

Konflikte angeheizt

Nahels Erschießung, die auf einem Video festgehalten wurde, schürt die seit Langem schwelenden Spannungen zwischen der Polizei und jungen Menschen in Wohnsiedlungen und anderen benachteiligten Stadtvierteln. In den letzten Jahren haben Studien deutlich gemacht, wie weit verbreitet rassistische Diskriminierung in Frankreich ist. Im Jahr 2017 ergab eine Untersuchung des französischen Ombudsmanns für Bürgerrechte, dass „junge Männer, die als Schwarze oder Araber wahrgenommen werden“, 20-mal häufiger einer polizeilichen Personenkontrolle unterzogen werden als der Rest der Bevölkerung.

Vor zwei Jahren reichten Human Rights Watch und Amnesty International eine Sammelklage gegen die Regierung ein, in der sie behaupteten, sie habe es versäumt, das Problem des Ethnic Profiling durch die Polizei anzugehen. Das Problem sei „tief in der Polizeiarbeit verwurzelt“, hieß es. Im vergangenen Jahr sind 13 Menschen, die sich nicht an Verkehrskontrollen hielten, von der französischen Polizei erschossen wurden. Heuer starben drei weitere Menschen, darunter Nahel, unter ähnlichen Umständen.

Auch die Vereinten Nationen (UNO) haben Frankreich am Freitag aufgefordert, sich mit Rassismusproblemen bei den Strafverfolgungsbehörden zu befassen. „Das ist der Moment für das Land, sich ernsthaft mit den tiefgreifenden Problemen des Rassismus und der Rassendiskriminierung bei der Strafverfolgung auseinanderzusetzen“, sagte die Sprecherin des UNO-Menschenrechtskommissariats, Ravina Shamdasani.

Erinnerungen an 2005

Die derzeitigen Ausschreitungen wecken Erinnerungen an die Krawalle des Jahres 2005. Der damalige Präsident Jacques Chirac rief zu dem Zeitpunkt den Notstand aus. Auslöser war der Tod von zwei jungen Männern, die auf der Flucht vor der Polizei die Absperrung zu einem Transformatorenhäuschen überwanden und dort von Stromschlägen getroffen wurden. Seit damals hat sich die Lage für die Vorstadtbewohnerinnen und -bewohner, von denen viele einen Migrationshintergrund haben, nicht grundlegend verbessert.

Zwar wurden Milliardensummen in die Entwicklung der Hochhaussiedlungen gepumpt, die Ghettoisierung der Viertel und die Isolation ihrer Bewohner aber nicht durchbrochen. Drogenhandel, hohe Arbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit grassieren. Viele Menschen in den Quartieren fühlen sich diskriminiert und meinen, in einem rassistischen Land zu leben.