Elon Musk
Reuters/Ludovic Marin
Trotz neuer Chefin

Twitter weiter auf Schlingerkurs

Mit seiner Ankündigung, das Lesen von Tweets einzuschränken, hat Twitter-Eigentümer Elon Musk am Wochenende für Empörung bei Nutzern und Nutzerinnen gesorgt. Der Schaden für das Unternehmen könnte aber noch größer sein, droht Musk doch mit diesem Schritt die Bemühungen der neuen Twitter-Chefin Lina Yaccarino, das Unternehmen wieder in ruhigeres Fahrwasser zu bringen, zu untergraben, warnen Fachleute.

Seit vergangener Woche können nur noch registrierte Nutzer und Nutzerinnen auf Tweets zugreifen. Zudem kündigte Musk am Samstag an, dass nicht verifizierte Konten vorübergehend auf 600 Beiträge pro Tag beschränkt werden, verifizierte Konten auf bis zu 6.000 Beiträge täglich. Nach großem Protest hob er wenige Stunden später die Grenzen auf 1.000 und 10.000 Tweets an.

Dadurch solle ein „extremes Ausmaß“ an Datenauswertung und Systemmanipulation verhindert werden, so Musk, ohne ins Detail zu gehen. Gemeint ist möglicherweise, dass nicht Firmen wie ChatGPT mit ihren Chatbots auf Twitter verfügbare Informationen in großem Stil abgreifen können, um damit künstliche Intelligenzen zu trainieren. Das hatte Musk schon in der Vergangenheit kritisiert.

Elon Musk und Linda Yaccarino
AP/Rebecca Blackwell
Musk mit Yaccarino Mitte April auf einem Podium. Knapp vier Wochen später wurde sie als neue Twitter-Chefin präsentiert.

Kritik der Nutzer

Der Aufschrei in der Twitter-Community war groß. Tausende berichteten am Wochenende von Zugangsproblemen zur Social-Media-Plattform. Viele zeigten Screenshots als Beleg, dass sie keine Tweets – auch nicht von Werbekunden – sehen konnten. Die Lesebeschränkungen können dazu führen, dass Nutzer für den verbleibenden Tag von der Nutzung der Plattform ausgesperrt werden.

Am Montag gab es weiterhin Probleme. Besonders betroffen war die Twitter-Software Tweet-Deck, auf das meist professionelle Nutzer wie Journalisten zurückgreifen. In der bisher werbefreien Software war die Darstellung von Listen gestört. Es blieb aber unklar, ob diese Schwierigkeiten auf die verkündeten Lesebeschränkungen zurückzuführen sind. Von Musk gab es dazu kein Kommentar.

Twitter-Verkäufer stellten offenbar am Wochenende Technikern des Unternehmens die Frage, was sie Werbekunden sagen sollten, wenn diese sehen, dass einige ihrer Anzeigen nicht auf der Plattform angezeigt werden, zitierte die „New York Times“ („NYT“) aus einer twitterinternen Kommunikation. Dem „NYT“-Bericht zufolge gingen die Werbeeinnahmen im April um 59 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zurück.

Yaccarino als „letzte Hoffnung“

All das schwächt die Position der neuen Twitter-Chefin Yaccarino, die Anfang Juni ihr Amt angetreten hat. Sie will die unter ihrem Vorgänger Musk abgewanderten Werbekunden zurückgewinnen. Vergangene Woche wurden etwa Pläne für einen eigenen Videowerbedienst bekannt, für die verstärkte Zusammenarbeit mit Prominenten und für eine Aufstockung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen.

Die Beschränkungen seien „bemerkenswert schlecht“ für Nutzer und Werbetreibendes, die bereits durch das „Chaos“, das Musk Twitter beschert habe, erschüttert seien, sagte etwa Mike Proulx, Forschungsdirektor beim Marktforschungsunternehmen Forrester, gegenüber Reuters.

Linda Yaccarino
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Die neue Twitter-Chefin Yaccarino will eigentlich Werbekunden zurückholen

Das Vertrauensdefizit der Werbetreibenden sei nun noch größer geworden. Proulx: „Und es kann nicht allein durch ihre (Yaccarinos, Anm.) Glaubwürdigkeit in der Branche behoben werden.“ Auch Lou Paskalis von der Werbeberatungsfirma AJL Advisory sieht in Yaccarino Musks „letzte Hoffnung“, die Werbeeinnahmen und den Wert des Unternehmens zu sichern: „Dieser Schritt signalisiert dem Markt, dass er (Musk, Anm.) nicht in der Lage ist, sie zu ermächtigen, ihn vor sich selbst zu retten.“

Mehrere Erklärungsansätze

In der Branche gibt es unterschiedliche Erklärungsmuster für die von Musk neu eingeführten Beschränkungen. So könnte Twitter durch die eingeführte Log-in-Pflicht eine technische Spirale ausgelöst haben, die zu einer selbst verursachen DDoS-Attacke (Distributed Denial of Service) geführt haben könnte. Dabei wird ein Server durch eine große Anzahl an Anfragen überlastet, was die Lesebeschränkungen notwendig gemacht haben könnte.

Das „Forbes“-Magazin zitierte noch eine weitere Theorie, dass sich Musk nämlich aus Kostengründen geweigert habe, Rechnungen an Amazon und Google zu bezahlen, diese stellen aber wichtige Dienste für Twitter zur Verfügung. Allerdings soll Twitter zuletzt zumindest die Google-Rechnung bezahlt haben.

Interesse an Alternativen wächst wieder

Der „Guardian“ stellte bereits die Frage, ob Musks neuerlicher Vorstoß das „endgültige Aus für die Social-Media-Plattform“ bedeute, und brachte als „offensichtliche Alternative“ Bluesky ins Spiel, das vom ehemaligen Twitter-CEO Jack Dorsey gegründet wurde. Am Wochenende mussten Neuanmeldungen aufgrund der großen Zahl zeitweise gestoppt werden. Bisher können sich aber nur Personen mit Einladungscodes anmelden.

Auch bei Mastodon stieg das Interesse wieder. Nach Angaben des Unternehmens sei die Zahl der aktiven Nutzer und Nutzerinnen der Plattform in den vergangenen Tagen um 110.000 gestiegen. Schon in den vergangenen Monaten wuchs dieser dezentral organisierte Kurznachrichtendienst, konnte Twitter aber noch nicht ersetzen.

Twitter mit Klagen überhäuft

Musk ließ als neuer Eigentümer bei Twitter keinen Stein auf dem anderen. Massenentlassungen, Kritik an fehlender Inhaltsmoderation, das Zulassen von rechtsextremen Konten und eine neu geregelte Vergabe von Verifikationshaken mit bezahlten Abos prägten die vergangenen Monate. Die eingebrochenen Werbeeinnahmen wollte Musk mit steigenden Aboerlösen kompensieren. Die finanzielle Situation des Unternehmens besserte sich dadurch aber kaum.

Twitter Zentrale in San Francisco
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An vielen Standorten dürfte Twitter in den vergangenen Monaten die Miete schuldig geblieben sein

Zudem sieht sich Musk mit mehreren Klagen konfrontiert. So reichte etwa am Donnerstag eine australische Firma bei einem US-Gericht eine Klage gegen Twitter ein. Der Vorwurf: Für Dienstleistungen in vier Ländern soll Twitter keine Rechnungen bezahlt haben. Der Schaden betrage der Klage zufolge etwa eine Million australische Dollar (rund 610.000 Euro).

Schon zuvor wurden mehrfach Klagen wegen der Nichtbezahlung von Rechnungen und Mieten gegen Twitter eingebracht. So brachte etwa ein britisches Immobilienunternehmen ein Gerichtsverfahren in Gang, weil Twitter diesen Angaben zufolge keine Miete für den Firmensitz in London bezahlte.

London dürfte nicht der einzige Standort gewesen sein, wo Mieten nicht beglichen wurden. Twitter habe bisher auf die Klagen auf seine eigene Weise reagiert, teilte das australische Unternehmen in seiner Klageschrift mit: Twitter klage also im Gegenzug „fast jeden, dem das Unternehmen Geld schuldet“.